Alice Crary über Effektiven Altruismus

Ich habe diesen interessanten Artikel gelesen:

Wenn ich es richtig verstanden habe, geht das zentrale Argument so:

1. Der Effektive Altruismus (EA) sieht das Ziel moralischen Handelns darin, „möglichst viel Gutes“ zu tun und bewertet daher alle entsprechenden Versuche – die Tätigkeit von Hilfsorganisationen, NGOs etc. – daraufhin, wie viel Gutes sie bewirken.

2. Um das zu tun, muss „das Gute” irgendwie quantifizierbar und messbar gemacht werden, z.B. in der Menge geretteter Tiere oder der Summe verhinderten Leids.

3. Es gibt schon eine gute Kritik an diesem Ansatz, die „institutionelle Kritik“, die dem EA vorwirft, zu stark auf unmittelbare messbare Wirkungen zu setzen und wenig Aufmerksamkeit auf politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen und Strukturen zu richten – das kann als Folge des Fokus auf die Messbarkeit gesehen werden, denn strukturelle und institutionelle Veränderungen lassen sich schwerer messen.

4. Angewandt auf den Pro-Tier-Aktivismus bedeutet das, dass die EA-beeinflussten Organisationen dazu neigen, sich auf kurzfristige Tierschutz-Verbesserungen zu konzentrieren, weil dabei Erfolge messbar sind, dabei aber die politischen und wirtschaftlichen Strukturen unangetastet lassen, die die heutige Tierindustrie erst ermöglichen und damit das Leid verursachen.

5. Auf diese Kritik reagiert der EA nun, indem er sie als interne Kritik versteht: EA-Vertreter*innen geben zu, dass der Fokus auf leicht Messbares eine problematische Tendenz ist, aber sagen zugleich, dass man dem auch innerhalb des EA abhelfen kann, indem man eben strukturelle und institutionelle Veränderungen ebenfalls einbezieht und in ihrer Wirkung abschätzt z.B. anhand historischer Vergleiche.

6. Wenn die institutionelle Kritik einen philosophischen Dreh bekommt, kann sie allerdings nicht mehr so abgewendet werden. Die philosophische Kritik lautet: Die Rede vom „möglichst viel Guten“ und der ganze EA setzen voraus, dass es eine objektive und abstrakte Perspektive gibt, von der aus man bestimmen kann, was gut bzw. was moralisch gefordert ist – eine Perspektive, von der aus außerdem nur Dinge wie Verbesserungen von Wohlbefinden und gerettete Leben als „Gutes“ zählen. Diese Position ist aber total eingeschränkt, philosophisch kontrovers, und tatsächlich lässt sich das Gute oder das moralisch Geforderte nicht auf diese Weise bestimmen. Zwar ist in vielen Situationen ein Fokus auf Wohlergehen oder Leben-retten geboten, in anderen Situationen können aber andere Ziele sinnvoller oder wichtiger sein, und das jeweils zu bestimmen, erfordert situationsgebundene Sensibilität statt abstrakter Theorien.

7. Gerade um institutionelle und strukturelle Misstände anzugehen, ist die (vermeintlich) objektive und abstrakte Perspektive nicht geeignet – erstens lassen sich entsprechende Veränderungen nicht einfach in Wohlergehen oder gerettete Leben umrechnen, selbst wenn man das wollte. Zweitens hängt die Einschätzung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Veränderungsmöglichkeiten schon davon ab, was man für Werte und Ziele hat (ob es einem z.B. um Wohlergehen und Lebenretten oder aber um Selbstbestimmung oder Gerechtigkeit geht), daher gibt es keine wertneutrale Perspektive darauf, die der EA aber bräuchte, um sagen zu können, welche Veränderung das „meiste Gute“ bewirkt.

8. Der EA beruht also auf einer fehlerhaften moraltheoretischen Grundlage. Dass er trotzdem so erfolgreich ist, liegt daran, dass seine Vertreter*innen so bereitwillig mit den bestehenden politisch-ökonomischen Systemen zusammenarbeiten – und diese dadurch bestätigen. Sie sehen dabei u.a das Ideal der ökonomischen Effizienz als unproblematisch an und sorgen so auch dafür, dass dieses sich in Bereichen und Diskursen breitmacht, die traditionell von anderen Werten geprägt sind. Der EA schwächt auf diese Weise alternative Perspektiven sowie Kritik und Widerstand gegen den neoliberalen Kapitalismus, der aber viele der leidverursachenden Verhältnisse erst erzeugt. Aus diesen Gründen ist der EA ein Lehrbuchbeispiel für moralischen Verfall.

Meinungen gern in die Kommentare!

Ein schon etwas älterer Artikel von Sandra Franz und mir zum Effektiven Altruismus hier: https://friederikeschmitz.de/gesellschaftlichen-wandel-kann-man-nicht-kaufen/