Es ist ein Bilderbuch für Erwachsene, das ich mit großem Genuss angeschaut und gelesen und dabei viel gelernt habe. In „Die Welt in einer Eierschale“ erzählt Sarah Heuzeroth in kurzen, verständlichen Texten und mit wunderschönen Illustrationen von den Beziehungen zwischen Vögeln verschiedenster Arten und ihrer Umgebung. Sie nimmt uns mit in die Arktis, in die Regenwälder Südamerikas, in die Kalahari-Wüste, aber auch in hiesige Seenlandschaften und Wälder. Denn Vögel spielen in all diesen Ökosystemen tragende Rollen – so sorgen Enten zum Beispiel dafür, dass Fischeier in Teiche gelangen. Anderswo verhindern Geier, die tote Säugetiere restlos aufessen, dass sich Krankheitserreger verbreiten. Spechte schützen Fichtenwälder vor Schädlingen und ihre verlassenen Höhlen dienen anderen Tieren als Wohnraum.
Im zweiten Teil des Buches geht es um den Einfluss menschlicher Gesellschaften auf die Vögel, der meistens ziemlich zerstörerisch ist – so sorgen unsere flächenintensive Landwirtschaft und insbesondere die Tierindustrie dafür, dass immer weniger Lebensräume für Vögel und andere Tiere bleiben. Giftstoffe vernichten Insekten, von denen Vögel sich ernähren, und die fortschreitende Klimakatastrophe bedroht die Grundlagen für das Überleben aller Arten – natürlich inklusive uns selbst.
Ich kenne Sarah seit vielen Jahren und durfte von einzelnen Kapiteln schon frühere Versionen anschauen. Daher bin ich voreingenommen, aber ziemlich sicher, dass ich das Buch auch sonst toll finden würde. Inhaltlich ist es klar und lebendig geschrieben. Das Besondere sind die farbenfrohen Darstellungen verschiedenster Vögel, die auf den großen Doppelseiten in ihren jeweiligen Landschaften und bei ihren vielfältigen Tätigkeiten gezeigt werden. Sarah schafft es, große Faszination für den überquellenden Artenreichtum unserer Welt zu wecken und auch die Motivation, sich für deren Schutz einzusetzen.
Was ich mich beim Lesen und Schauen manchmal gefragt habe: Ob man in so einem Buch nicht auch etwas präsentieren müsste, das man die dunkle Seite der Natur nennen könnte: Die Tatsache, dass Tiere nicht nur durch unsere menschlichen Einflüsse leiden müssen, sondern dass alle lebendigen Ökosysteme mit extrem viel Leid einhergehen. Und die Vögel haben natürlich ihren Anteil daran.
Sarah schreibt selbst, dass ihr Buch parteiisch sei, weil es nur die positiven Auswirkungen der Vögel darstelle – sie meint dabei aber die positiven Auswirkungen auf die Artenvielfalt bzw. die Aufrechterhaltung von Ökosystemen, im Gegensatz zu einzelnen Fällen, wo Vögel schädigend auf andere Arten wirken. Dass artenreichen Ökosysteme für sich wertvoll sind, setzt sie voraus.
Aber für einzelne Tiere bedeutet das Leben darin oft die Hölle – sie gehen an Krankheiten, Parasiten, Hunger oder Fressfeinden qualvoll zugrunde, oft bevor sie überhaupt wirklich gelebt haben. Und Vögel selbst verursachen jede Menge Leid: Krähen haben vielerorts gelernt, Lämmern und Rehkitzen die Augen auszuhacken. Kuckucksküken werfen ihre Stiefgeschwister aus dem Nest. Erpel verfolgen zur Paarungszeit teilweise in Gruppen einzelne weibliche Enten bis zur Erschöpfung und zwingen sie zum Geschlechtsverkehr, indem sie die Ente unter Wasser drücken, wobei es immer wieder vorkommt, dass sie dabei ertrinkt. Kormorane und andere Raubvögel verschlucken ihre Beutefische lebendig, so dass sie wohl im Magen langsam sterben. Alles richtig übel, würde ich sagen.
Was daraus weiter folgt, da bin ich selbst ratlos – denn ich teile trotz allem Sarahs Intuition, dass artenreiche, lebendige Ökosysteme etwas Gutes und Wertvolles sind, das es zu schützen oder wiederherzustellen gilt. Wirklich gute Gründe habe ich dafür allerdings nicht. Und ich kann die andere Perspektive, in der dieselben Ökosysteme ebenso oder sogar primär ein brutales Gemetzel sind, auch nicht ganz wegschieben. Irgendwie muss man beides zusammendenken, aber das gelingt mir noch nicht.
Sarahs Buch liefert auf jeden Fall viel Anlass, über solche Fragen weiter nachzudenken. Ihr bekommt es für 30 Euro in jedem Buchladen.
Sarah Heuzeroth: Die Welt in einer Eierschale. Eichborn 2024.