Die vegane Ernährung wird oft nicht nur mit Verweis auf die Situation der Tiere begründet. Viele Menschen essen auch deshalb vegan, weil sie Umwelt und Klima schonen wollen, und einige Organisationen bewerben vegane Ernährung mit Verweis darauf, wie sehr die Erzeugung von Tierprodukten die Klimakrise anheizt sowie Lebensräume und Biodiversität schädigt und zerstört. Gleichzeitig gibt es aber Stimmen, die diese Argumente kritisieren und zum Beispiel sagen, dass die vegane Ernährung nicht die umweltfreundlichste sei oder es Formen der Tierhaltung gebe, die im Hinblick auf Klimaschutz nicht schädlich, sondern günstig seien.
Da die ganze Debatte einigermaßen komplex ist, versuche ich in diesem Blogbeitrag etwas Ordnung zu schaffen. Eine zentrale Einsicht ist, dass es bei dem Thema einige klare Fakten, aber auch mehrere komplizierte Fragen gibt, die sich nicht so einfach beantworten lassen. Wichtig ist, die beiden auseinanderzuhalten. Und genau zu schauen, was aus bestimmten Fakten eigentlich folgt und was nicht.
Tierethische Aspekte, aus denen sich starke Argumente für eine vegane Ernährung ergeben, lasse ich zunächst ganz außer Acht, einfach weil es sinnvoll ist, verschiedene Argumente sauber zu trennen und jeweils ihre Überzeugungskraft zu beurteilen. Ebenso lasse ich außer Acht, dass eine bestimmte Definition von „vegan“ bzw. „veganer Ernährung“ schon impliziert, dass diese tierethisch begründet ist, und sich entsprechend von einer rein pflanzlichen Ernährung unterscheidet. Ich halte nicht viel vom Beharren auf Definitionen, die durch die Gebrauchspraxis schon überholt sind, und verstehe unter „veganer Ernährung“ dem verbreiteten Sprachgebrauch folgend eine Ernährung ohne Tierprodukte.
(Dementsprechend geht es in den nächsten Abschnitten auch nicht um den Veganismus als philosophische Position und ethisch motivierte Lebensweise, die ja viele weitere Bereiche betrifft als nur die Ernährung und klarerweise nicht mit Umwelt- oder Klimaargumenten begründet werden kann.)
Was ist die umweltfreundlichste Ernährungsweise?
1. Klar ist: Die hiesige Durchschnittsernährung verursacht relevante Mengen an Treibhausgasemissionen sowie Schäden für die Biodiversität und das liegt zum großen Teil an dem hohen Anteil an Tierprodukten. Um Emissionen und Schäden zu verringern, braucht es daher mindestens eine drastische Reduktion des Tierkonsums, insbesondere von Fleisch- und Milchprodukten. Laut Planetary Health Diet müsste der Konsum hierzulande um mindestens 75 Prozent zurückgehen, um dauerhaft planetare Grenzen nicht zu überschreiten. Andere Untersuchungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen.
2. Klar ist: Bei Vergleichen verschiedener Ernährungsweisen (vegan, vegetarisch, Mischkost mit mehr oder weniger Fleisch, Ernährung nur mit Bioprodukten etc.) im Hinblick auf Klimaemissionen oder Effekte auf die Biodiversität schneiden vegane Ernährungsweisen typischerweise deutlich besser ab als alle anderen. Hierbei werden immer Durchschnittswerte für die verschiedenen Ernährungsweisen zugrunde gelegt.
3. Daraus folgt nicht, dass jede vegane Ernährungsweise umweltfreundlicher wäre als jede nicht-vegane Ernährungsweise. Denn natürlich gibt es vegane Lebensmittel, die zum Beispiel mehr Treibhausgasemissionen verursachen als bestimmte Tierprodukte – eingeflogenes Obst etwa verursacht pro Kilo mehr Emissionen als Schweine- oder Hühnerfleisch, Tomaten aus dem beheizten Gewächshaus mehr Emissionen als Kuhmilch-Joghurt. Man kann daher Vergleiche anstellen wie: Wer sich vegan, aber mit einigen eingeflogenen Früchten ernährt, verursacht mehr Emissionen als jemand, der sich ab und zu eine Hühnersuppe kocht oder einen Kuhmilch-Joghurt kauft, aber ansonsten pflanzlich, regional und saisonal isst.
Man kann also nicht uneingeschränkt sagen, dass eine vegane Ernährung per se am umweltfreundlichsten sei. Allerdings ist diese Aussage weniger falsch als vielmehr unklar: Es ist unklar, ob es um eine Durchschnittsernährung oder eine individuelle Ausgestaltung geht.
Wenn es um eine Durchschnittsernährung geht, hängt es davon ab, wie man sie definiert und welche anderen durchschnittlichen Ernährungsweisen man unterscheidet – nach üblichen Unterscheidungen in „vegan“, „vegetarisch“ und „Mischkost“ stimmt die Aussage.
Wenn man eine Ernährungsweise „pflanzlich, saisonal und regional plus 100 Gramm Tierprodukte im Monat“ definieren würde, würde diese vermutlich besser abschneiden. Allerdings bezweifle ich, dass das eine relevante Kategorie wäre bzw. dass es eine relevante Zahl an Menschen gibt, die sich so ernähren. Außerdem wäre es fair, dann auch noch die Ernährungsweise „rein pflanzlich, saisonal und regional“ hinzuzunehmen, die dann wieder besser abschneiden würde. Zugleich könnte eine Ernährung, die geringe Mengen Tierprodukte aus ganz bestimmten Quellen enthält (und sonst pflanzlich, saisonal und regional ist), sogar noch besser abschneiden – mehr dazu unter Punkt 6. Die Frage ist da eben wieder, inwieweit es sinnvoll oder aussagekräftig ist, solche Ernährungsweisen zu definieren und zu vergleichen, gegeben wie wenig praktische Relevanz sie haben.
Wenn man mit der Aussage „vegane Ernährung ist am umweltfreundlichsten“ meint, dass jede individuelle Ausgestaltung einer veganen Ernährungsweise umweltfreundlicher sei als jede andere Ernährungsweise, ist die Aussage also falsch. Man kann dann aber letztlich von keiner real durchgeführten Ernährungsweise sagen, dass sie „am umweltfreundlichsten“ sei, weil immer Varianten denkbar sind, die noch umweltfreundlicher sind. Ein Ranking individueller Ernährungsweisen nach Umweltfreundlichkeit wäre enorm kompliziert und lässt sich wahrscheinlich gar nicht sinnvoll durchführen.
4. Aus all dem folgt wiederum nicht, dass es keine gute Empfehlung wäre, vegan zu essen, wenn man Umwelt und Klima schonen will. Tatsächlich ist es eine gute Empfehlung und es macht auch viel Sinn zu sagen, dass man sich aus Umwelt- und Klimagründen vegan ernährt. Warum?
4.1 Erstens ist „vegan“ eine gute Daumenregel, denn in der Regel sind pflanzliche Gerichte deutlich weniger schädlich als vergleichbare tierische Optionen.
4.2 Zweitens ist es eine viel bessere Daumenregel als die, nur regionale oder Bio-Produkte zu kaufen. Viele Menschen glauben ja, dass Regionalität und Bio die Schlüssel für klima- oder umweltfreundliche Ernährung sind. Das stimmt aber nicht, denn die Emissionen aus dem Transport sind vergleichsweise gering und die Unterschiede zwischen Bio und konventionell sind in der Regel kleiner als die zwischen Tier und Pflanze. Daher ist es sinnvoll, die Daumenregel „pflanzlich“ oder „vegan“ als größeren Hebel für Klima- und Umweltschutz zu etablieren. Sie kann dann gut durch „saisonal“, „regional“, „keine Flugware“ oder „Bio“ ergänzt werden (wobei letzteres etwas umstrittener ist).
4.3 Drittens macht es Sinn, mit solchen groben Daumenregeln zu arbeiten, auch wenn sie nicht in jedem Einzelfall das richtige Ergebnis liefern. Denn Daumenregeln helfen uns, unsere Ernährung umzustellen, ohne ständig nachzudenken oder Emissionsrechnungen durchzuführen. Es gibt nur eine begrenzte Menge von Ernährungsweisen, die als solche unterschieden und diskutiert werden – also so etwas wie „vegan“, „vegetarisch“, „flexitarisch“, „nur Bioprodukte“ etc. Eine Ernährungsweise „immer die emissionsärmste Option, die mir die nötigen Nährstoffe liefert“ gibt es nicht, u. a. weil das im Alltag einfach schwer durchführbar wäre. Von den üblichen, bekannten Ernährungsweisen ist dann eben die vegane die beste.
Und entsprechend kann man sinnvoll die eigenen Motive beschreiben, indem man sagt: Ich ernähre mich vegan aus Umwelt- und Klimagründen, denn das ist eine gute Daumenregel, die es mir einfacher macht und auch in vielen Situationen leicht zu kommunizieren ist.
Gibt es eine umwelt- oder klimaverträgliche Gewinnung von Tierprodukten?
5. Klar ist: Viele Argumente, mit denen bestimmte Formen der Tierhaltung als umwelt- oder klimafreundlich verteidigt werden sollen, sind schlecht. Ich habe einige davon schon in anderen Artikel behandelt. Es geht zum Beispiel um folgende Aussagen.
5.1 Gesagt wird, die Erzeugung von Rindfleisch und Milchprodukten sei sinnvoll, weil zwei Drittel der globalen und ein Drittel der deutschen Agrarfläche Grünland sei, das nur über solche Wiederkäuer verwertet werden kann. Das mit den zwei Dritteln bzw. einem Drittel stimmt zwar, aber daraus allein folgt nicht, dass es aus Umwelt- oder Klimasicht sinnvoll wäre, dort Tiere zu weiden oder das Gras an Tiere zu verfüttern.
Bei dem Argument wird oft implizit vorausgesetzt, dass wir auf allen verfügbaren Flächen Nahrungsmittel herstellen müssten, weil das sonst irgendwie Verschwendung wäre. Dabei wird komplett unterschlagen, dass es ja sehr positive Effekte haben kann, bestimmte Flächen nicht mehr für die Nahrungsmittelproduktion nutzen: Dort können u. a. Biotope mit hohem Natur- und Klimaschutzwert entstehen.
Außerdem wird oft so getan, als ob ohne Nutzung des Grünlands zwangsläufig global zu wenig Nahrung hergestellt werden könnte. Das ist aber keineswegs gegeben, u. a. da ja bei sinkender Tierhaltung mehr Äcker zur Verfügung stehen, auf denen bisher Futtermittel wachsen. Es gibt einige Studien, die zum Ergebnis kommen, dass in einer komplett veganen Welt mehr Menschen ernährt werden könnten als heute.
In dem Argument stecken auf tieferer Ebene zwei durchaus relevante und schwierige Fragen: Die erste ist, ob es im Hinblick auf Umwelt und/oder Klima Sinn ergibt, das existierende Grünland oder Teile davon durch Haltung von Wiederkäuern für die Erzeugung von Fleisch oder Milchprodukten zu nutzen, oder ob die Alternativen sinnvoller sind. Mehr dazu unter Punkt 7.2 und 7.3. Die zweite Frage ist, ob eine vegane Welt praktisch alle Menschen satt machen könnte, wenn man regionale Unterschiede und soziale Bedingungen miteinbezieht. Mehr dazu unter Punkt 8. Klar ist aber: Nur auf die bloße Existenz des Grünlands zu verweisen, reicht für die Argumentation nicht aus.
Außerdem ist hier noch wichtig zu betonen, dass die heutige Tierhaltung nur zu einem kleinen Teil überhaupt auf Grünland basiert – Hühner und Schweine bekommen praktisch nur Futter vom Acker und auch fast alle Rinder werden von Äckern zugefüttert. Also mit dem Verweis aufs Grünland kann man die aktuelle Praxis der Tierhaltung oder den heutigen Tierkonsum sowieso nicht rechtfertigen, sondern müsste zustimmen, dass die Praxis grundlegend verändert und die Konsummengen drastisch gesenkt werden müssten.
5.2 Gesagt wird, Tierhaltung sei sinnvoll oder für eine nachhaltige Nahrungsmittelerzeugung sogar notwendig, weil die Ausscheidungen der Tiere wertvollen Dünger lieferten. Ohne den Dünger müssten wir entweder mehr Kunstdünger verwenden, dessen Herstellung energieaufwändig ist, oder wir würden auf Dauer die Böden ruinieren. Der Denkfehler liegt hier darin anzunehmen, dass Tiere irgendwelche Nährstoffe aus dem Nichts herstellen würden. Tatsächlich können sie nur Stoffe, die sie selbst über das Futter aufnehmen, umwandeln und wieder ausscheiden. Man kann daher auch direkter pflanzlich düngen. Um eine Kreislaufwirtschaft zu schaffen und mineralische Düngemittel zu sparen, ist es mittelfristig wichtig, mehr menschlichen Exkremente wieder zurückzuführen. Mehr zum Thema Dünger in meinem Artikel „Das Dünger-Märchen“.
5.3 Gesagt wird, Rinder in Weidehaltung seien aktiver Klimaschutz, weil sie kohlenstoffreiche Grünland-Böden erhalten oder sogar dabei helfen würden, neuen Kohlenstoff in Böden einzulagern. Diese Behauptungen kranken daran, dass sie typischerweise solche möglichen positiven Effekte (zu denen es nur spärliche Daten gibt) nicht mit den negativen Effekten des Methans aus der Rinderhaltung gegenrechnen. Zugleich wird oft die Rolle des biogenen Methans für die Erderwärmung heruntergespielt. Außerdem beziehen die Vertreter*innen des Arguments meist nicht mit ein, was man mit dem Land stattdessen machen könnte, also welche Effekte eine Renaturierung oder eine andere Nutzung (Gras für Graspapier, Solarfelder o.ä.) hätte. Insgesamt ist das Klima-Argument für Weidehaltung daher mindestens unterkomplex und daher nicht überzeugend. Klar ist außerdem auch hier, dass die aktuell praktizierte Rinder-Weidehaltung sowohl in der Menge als auch in der Ausgestaltung (fast alle Rinder werden vom Acker zugefüttert, viele Flächen werden überweidet und erodieren deshalb, etc.) die Klimakrise anheizt anstatt sie abzumildern. Mehr dazu in meinem Artikel „Klimafreundliche Rinderhaltung? Achtung Greenwashing“.
5.4 Gesagt wird, dass die Erzeugung von pflanzlichen Lebensmitteln zwangsläufig große Mengen sogenannter „Reststoffe“ hervorbringe, die nur über die Verfütterung an Tiere effizient verwertet werden könnten. Teilweise wird dabei unterschlagen, dass aktuell praktisch kein Tier nur mit solchen Reststoffen gefüttert wird – stattdessen werden ja große Mengen Futtermittel gezielt auf Äckern angebaut, wo auch Nahrung für Menschen wachsen könnte. Oft wird zudem die Menge an Reststoffen, um die es geht, massiv übertrieben – so wiederholen zum Beispiel einige Leute gern eine Zahl von Wilhelm Windisch, wonach pro Kilo veganem Produkt vier Kilo Reststoffe anfielen. Dabei kommt diese Zahl nur zustande, wenn man das ganze Ernährungssystem betrachtet und das Gras vom Grünland als „Reststoff“ einrechnet. Bei Ackerfrüchten wie Weizen scheint das Verhältnis eher eins zu eins zu sein. Schließlich ist es so, dass man viele dieser Reststoffe auch anderweitig verwerten kann und stetig weitere Nutzungsmöglichkeiten entwickelt werden. Mehr dazu in meinem Blogartikel „Tiere als Resteverwerter?“.
Auch hier reicht es also keineswegs, einfach auf die Existenz von Reststoffen zu verweisen. Die interessante Frage ist, ob es im Hinblick auf Umwelt und Klima sinnvoll ist, solche Stoffe zu verfüttern, oder ob die Alternativen sinnvoller sind. Das ist aber ein viel komplexeres Argument. Mehr dazu unter Punkt 7.3.
5.5 Zusammenfassend gilt: Beliebte Argumente für die These, dass Tierhaltung ökologisch sinnvoll sei, sind nicht überzeugend – sie beruhen auf falschen Annahmen, problematischen Vereinfachungen oder Übertreibungen und zeigen oft auch eine Unwilligkeit, ernsthaft über Alternativen nachzudenken. Außerdem stellen sie typischerweise Bedingungen an die Tierhaltung (wie reine Reststoff- oder Grünlandfütterung), die in der aktuellen Realität praktisch nie erfüllt sind.
6. Daraus folgt nicht, dass es keine Nutzung von Tieren für Tierprodukte gibt oder geben kann, die für Umwelt oder Klima besser ist als die Erzeugung von äquivalenten nicht-tierischen Nahrungsmitteln. Anders gesagt: Daraus folgt nicht, dass das umwelt- und klimafreundlichste Ernährungssystem vegan ist. Genau das wird aber teilweise von veganer Seite vertreten. Dabei gibt es ein paar ernstzunehmende Argumente dafür, dass ein gewisses Maß an Ausbeutung von Tieren ökologisch gesehen verträglich oder sinnvoll sein kann. Als nächstes kommen drei Beispiele dafür.
6.1 Das Töten und Essen von wildlebenden Tieren ist für Umwelt und Klima wohl nur dann problematisch, wenn es ein bestimmtes Maß überschreitet oder anderweitig dabei Ökosysteme geschädigt werden. Es scheint also zum Beispiel plausibel, dass Menschen aus Seen und Flüssen eine bestimmte Anzahl Fische pro Jahr angeln könnten, oder in den Wäldern eine bestimmte Zahl an Rehen totschießen könnten, ohne negative Effekte auf die Ökosysteme zu haben (vom massiven Leid und Tod der Tiere ist hier wiederum nicht die Rede, nicht weil sie nicht wichtig wären, sondern weil es eine andere Argumentation ist). Die Zahlen wären möglicherweise sehr klein und die Praxis würde sicher sehr anders aussehen als das, was wir aktuell als Jagd und Fischerei kennen. Aber es reicht ja für das Argument, wenn die Zahlen nicht Null sind. Wenn wir eine ansonsten vegane Ernährung mit solchen getöteten Wildtieren ergänzen, müssen wir insgesamt weniger pflanzliche Nahrungsmittel erzeugen. Das kann ökologisch sinnvoll sein, weil wir dann weniger Fläche für den Pflanzenbau in Beschlag nehmen und womöglich insgesamt weniger Ressourcen aufwenden müssten.
6.2 Ebenso gibt es womöglich ein gewisses Level an Nutztierhaltung, das auf Basis von Reststoffen im Hinblick auf Umwelt und Klima vertretbar oder sogar vorteilhaft wäre. Es geht um viel weniger Stoffe, als oft behauptet wird, und es gibt andere Nutzungsmöglichkeiten, die sich auch ständig weiterentwickeln und weiterverbreiten. Aber wenn wir uns eine Tierhaltung vorstellen, die für sich genommen wenig Energie braucht und wenig Emissionen verursacht, könnte allein aus Umweltperspektive die Verfütterung bestimmter Reststoffe die beste Verwertungsmethode sein – denken wir zum Beispiel an eine Hinterhof-Kaninchenmast mit Küchenabfällen. Denn dadurch bekämen wir Nahrungsmittel mit vergleichsweise hohem Nährwert, die vegane Nahrungsmittel ersetzen können, was ggf. in der Bilanz Fläche und Ressourcen spart.
6.3 Es wird immer wieder gesagt, dass die Beweidung von Grünland hierzulande wichtig sei zur Erhaltung der spezifischen Artenvielfalt auf Wiesen und Weiden. Wenn damit die aktuelle Tierhaltung gerechtfertigt werden soll, ist das ein schlechtes Argument, weil die allermeisten Weiden viel zu intensiv genutzt werden und die Tierhaltung effektiv die Arten dezimiert. Aber es scheint durchaus Beweidungspraktiken zu geben, die der Artenvielfalt zuträglich sind – man spricht dann von Naturschutz-Beweidung, die sich durch eine besonders niedrige Besatzdichte auszeichnet, also sehr wenig Tiere pro Hektar. Diese Art der Tierhaltung könnte also in punkto Biodiversität sinnvoll sein. Man müsste sie dann mit den Klimaeffekten durch die Methanemissionen abwägen, dabei aber auch bedenken, dass zum Beispiel bei einer Renaturierung bzw. Rewilding, was als Alternative diskutiert wird, wildlebende Wiederkäuer zunehmen würden, die ihrerseits Methan ausstoßen. Es scheint mir zumindest möglich, dass man in einer Gesamtbewertung zu dem Schluss käme, dass eine Naturschutz-Beweidung ökologisch sinnvoll ist. Natürlich müsste man diese Tiere nicht schlachten und essen, aber wenn man rein von Umweltauswirkungen her argumentiert, würde man sagen, dass es Verschwendung wäre, das nicht zu tun, weil man so ja weniger pflanzliche Nahrungsmittel anbauen müsste.
6.4 Mir scheint anhand dieser Beispiele klar: Wenn wir nur auf Umwelt- und Klimaschutz im geschilderten Sinne gucken, kann es gut sein, dass das bestmögliche Ernährungssystem nicht komplett vegan ist. (Ich würde zugleich nicht ausschließen, dass es vegan ist, weil es auch ökologisch wenig schädliche bis vorteilhafte Methoden zur Gewinnung pflanzlicher Nahrungsmittel gibt, wenn wir z.B. an Permakultur, Waldgärten und dergleichen denken. Es scheint mir zumindest möglich, dass ein Ernährungssystem auf dieser Basis mindestens genauso gut abschneiden würde wie eins, dass bestimmte Formen der Tiernutzung integriert.) Daraus ergeben sich mindestens zwei Fragen. 1.) Welche Rolle würden in einem möglichst umwelt- und klimafreundlichen Ernährungssystem Tierprodukte spielen, also um welche Mengen geht es? Anders gesagt: Handelt es sich um eine minimale oder um eine signifikante Rolle für die Ernährung der Bevölkerung? 2.) Wenn wir davon ausgehen, dass aus tierethischer Perspektive das Ernährungssystem komplett vegan sein sollte, dann scheint es da einen Konflikt zwischen Umwelt- und Klimaschutzzielen und tierethisch motivierten Zielen zu geben. Wie bedeutsam ist der und wie gehen wir damit um? Ich betrachte die beiden Fragen nacheinander (Punkt 7 und Punkt 9) und zwischen den beiden noch ein weiteres Argument (Punkt 8).
Um welche Mengen geht es?
7. Die Frage, welche Rolle Tierprodukte in einem möglichst umwelt- und klimafreundlichen Ernährungssystem spielen würden, ist je nach Fokus unterschiedlich und insgesamt schwierig zu beantworten. Ich gehe die genannten Vorschläge für eine verträgliche Erzeugung von Tierprodukten nacheinander durch.
7.1 Wildtiere essen: Die Jagd liefert in Deutschland aktuell ca. 30.000 Tonnen Fleisch pro Jahr, das entspricht etwa 360 Gramm pro Person, also 0,7 Prozent des Gesamtfleischkonsum. Dabei muss man noch mitdenken, dass viele Wildtiere von Jäger:innen gefüttert werden. Die deutsche Fischerei im Meer liefert etwa 36.000 Tonnen tote Tiere pro Jahr, die Angelfischerei in Seen und Flüssen 14.700 Tonnen. Das sind also ähnliche Größenordnungen und sicher ist ein großer Teil davon nicht ökologisch nachhaltig. Eine ernsthaft umwelt- und klimaschutzverträgliche Jagd und Fischerei, wie immer die genau aussehen könnte, könnte also höchstens minimal zur Ernährung der Bevölkerung beitragen.
7.2 Ebenfalls nur minimal kann die Rolle von Produkten aus Naturschutz-Beweidung sein: Man findet leider kaum Zahlen dazu, wie viel Tierprodukte etwa dabei erzeugt werden könnten, obwohl so viele Leute von Weidefleisch schwärmen. Ich habe die Hektarerträge von einem Vorzeigebetrieb mal hochgerechnet und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass jede Person in Deutschland pro Jahr 2 – 6 Kilo Fleisch essen könnte, wenn man das komplette Grünland nur noch so bewirtschaften und die restliche Tierhaltung abschaffen würde. (Milchprodukte wären dann auch keine mehr dabei, weil das wieder ein ganz anderes System wäre und bei weiträumiger Naturschutz-Beweidung auch logistisch schwieriger.) Das sind keine besonders belastbaren Zahlen, aber man kann trotzdem davon ausgehen, dass die Gesamtmenge recht gering wäre, einfach weil die Besatzdichte so niedrig ist und es den Naturschutzzielen auch widersprechen würde, wenn man die Flächen düngen würde. Ohne externen Dünger liegt aber der Fleischertrag pro Hektar weit unter dem heute im Schnitt üblichen Niveau.
7.3 Weniger klar sind die Zahlen bei einer Tierhaltung, die auf Reststoffen (bzw. Koppelprodukten) basiert. Hier wird es richtig kompliziert. Es gibt zwar einzelne Studien, die so eine Fragestellung global modellieren (Stichwort „livestock on leftovers“), wobei immer Grünland als Futtergrundlage für Wiederkäuer einbezogen wird. Eine Studie, die u. a. verschiedene frühere Untersuchungen zusammenfasst, kommt zum Ergebnis, dass eine Ernährung, die einen gewissen Anteil Tierprodukte auf Basis von Gras- und Reststofffütterung enthält, weniger Ackerland benötigt als eine rein vegane Ernährung, bei der eben diese Stoffe nicht wieder der Nahrungsmittelerzeugung zufließen würden. Die Menge an Tierprodukten beziffert die Studie im globalen Durchschnitt auf 9 bis 23 Gramm tierische Proteine pro Tag und Person. Zum Vergleich: Der durchschnittliche Konsum in Deutschland beträgt 58 Gramm, er müsste also um 60 bis 85 Prozent zurückgehen. Allerdings ist Ackerland ja nur eine relevante Messgröße. Eine dort mit betrachtete Studie kommt interessanterweise zu dem Ergebnis, dass im Hinblick auf die Treibhausgase das vegane Szenario besser ist als die Leftovers-Szenarien, also weniger Emissionen verursacht.
Das zeigt schon, dass derartige Modellierungen generell nur bedingt aussagekräftig sind, erstens weil man unterschiedliche Ziele setzen kann – hier entweder möglichst wenig Ackerland zu beanspruchen oder möglichst wenig Treibhausgase zu verursachen. Noch andere Ergebnisse hätte man, wenn man das Ziel hätte, möglichst wenig Land insgesamt zu beanspruchen, also auch Grünlandflächen für Rewilding-Projekte freigeben zu können.
Zweitens gibt es für die meisten Reststoffe eine Vielzahl an Nutzungsmöglichkeiten, die typischerweise nicht alle mit abgewogen werden. Zum einen ist veränderlich, was überhaupt erstmal als Reststoff anfällt – zum Beispiel gilt Kleie als Reststoff, aber nur, sofern wir Weißmehl statt Vollkornmehl essen, denn bei letzterem wird gar keine Kleie abgetrennt. Aus Gesundheitssicht wird immer geraten, Vollkornprodukte zu essen. Oder: Bei der Erzeugung von Rapsöl fällt Rapsschrot an, das aktuell verfüttert wird. Daraus könnten in Zukunft, wenn Bitterstoffe beseitigt werden, aber auch proteinreiche Fleischalternativen hergestellt werden, wie es zunehmend u. a. bei Sonnenblumenschrot passiert. Zum anderen erweitern sich die Optionen durch Forschung ständig – so sind schon Verfahren in der Entwicklung, die aus Gras vom Grünland hochwertige Proteine für die menschliche Ernährung erzeugen. Im Zuge der Bioökonomie wird der Bedarf an Biomasse für verschiedenste Verwendungen deutlich steigen. Und Energieerzeugung durch Biogas aus Reststoffen ist sinnvoll, wenn damit fossile Energien ersetzt werden.
Drittens kann man auch auf der Konsumseite verschiedene Zielgrößen nutzen, wenn es darum geht, eine angemessene Ernährung zu definieren. Man kann zum Beispiel nur anhand von Kalorien und Eiweiß messen und kommt dann zu anderen Ergebnissen, als wenn man Mikronährstoffe wie Vitamine, Eisen, Calcium, Jod, Selen oder Folsäure einbezieht. Da man je nach Ernährungsweise mit manchen Nährstoffen besser und mit anderen schlechter versorgt ist, müsste man jeweils auch Anreicherung und Supplementierung einbeziehen und den Ressourcenbedarf und die Emissionen dafür mitrechnen, was in den vorhandenen Studien nicht passiert. (Zum Beispiel scheint die Produktion von Algenöl recht energieintensiv zu sein; wenn wir davon ausgehen, dass man bei einer veganen Ernährung Algenöl zur Omega-3-Versorgung einnehmen sollten, müssten wir das einrechnen.) Umgekehrt beziehen die Szenarien mit Tierhaltung typischerweise nicht die Futterzusätze mit ein, die die Tiere bekommen, das müsste also dort eingerechnet werden, damit der Vergleich zuverlässige Ergebnisse liefert.
Das Ganze ist durch diese Vielzahl an Faktoren insgesamt so komplex, dass sich auf Basis der vorhandenen Studien eigentlich keine belastbaren Aussagen darüber treffen lassen, welche und wie viele „Leftovers“ man sinnvollerweise verfüttern sollte.
7.4 Wenn man anders als die vorhandenen Studien tatsächlich alle diese Faktoren einbeziehen, alle Alternativen ernstnehmen und zukünftige Forschung und Entwicklung mitdenken würde, gehe ich davon aus, dass in einem ökologisch optimalen Szenario Tierprodukte hierzulande höchstens noch eine minimale Rolle für die Ernährung der Bevölkerung spielen würden. Das ist aber an diesem Punkt kein fundiertes Urteil, sondern eher eine Mutmaßung, die sicher auch davon beeinflusst ist, dass das meinen anderen Werten (Tierethik) entgegenkommen würde. Ich würde es objektiv gesehen als unklar bewerten, wie groß genau der Anteil von Tierprodukten unter diesen Voraussetzungen wäre. Klar ist nur, dass er drastisch kleiner wäre als heute, aber wahrscheinlich/womöglich auch nicht gleich null. Dass der genaue Anteil unklar ist, bedeutet zugleich auch, dass Leute, die so tun, als sei eine bestimmte Menge an Tierprodukten oder Tierhaltung mit Sicherheit ökologisch sinnvoll, die Sache falsch darstellen.
Gibt es andere plausible Bedenken gegenüber einer veganen Welt?
8. Es gibt noch ein Argument, das oft gegen eine komplett oder fast vegane Welt angeführt wird. Es besagt, dass aufgrund regionaler Unterschiede und sozialer Bedingungen eine Umstellung auf globalen Veganismus praktisch für viele Menschen existenzbedrohend oder gesundheitlich nachteilig wäre. Denn zum einen stellt Tierhaltung heute für viele Menschen eine wichtige Einnahmequelle dar. Zum anderen sind Tierprodukte eine wichtige Quelle von hochwertigen Proteinen und Mikronährstoffen, die gerade in ärmeren Regionen mit begrenzten Anbaumöglichkeiten nicht leicht ersetzt werden können.
8.1 Ich halte das für wichtige Punkte, aus denen allerdings aus meiner Sicht praktisch nicht viel folgt: Natürlich stimmt es, dass aktuell viele Menschen von der Tierhaltung abhängen und man die nicht „einfach so“ abschaffen könnte. Aber wenn wir über die Ausgestaltung einer veganen Welt reden, bewegen wir uns sowieso im Bereich der theoretischen Möglichkeiten, der Utopie, die von der Realität meilenweit entfernt ist. Wenn wir schon solche Möglichkeiten konstruieren, spricht auch nichts dagegen, andere Veränderungen gleich mitzudenken: Dass wir eine globale Umverteilung hinbekommen, so dass es keine Regionen mehr gibt, wo Menschen aufgrund ihrer sozialen Stellung auf bestimmte Einkommensquellen angewiesen sind, weil sie sonst keine Optionen haben, oder wo Menschen keinen Zugang zu hochwertiger pflanzlicher Nahrung und nötigen Supplementen haben, weil sie arm sind. Anders gesagt: Ich sehe keinen Grund dafür, dass es prinzipiell unmöglich sein sollte, eine vegane und bedarfsdeckende Ernährung weltweit zu organisieren.
8.2 Das heißt wiederum nicht, dass es unsere Aufgabe wäre, jetzt in anderen Ländern die Subsistenz-Tierhaltung zu bekämpfen oder ähnliches. Wir sollten genug damit zu tun haben, die hiesigen Tierindustrie-Konzerne zu entmachten, die übrigens zugleich weltweit die hiesigen Ernährungsstile und Tierproduktionsverfahren verbreiten und daran verdienen. Also während es teilweise so dargestellt wird, als ob westliche Veganer:innen die Welt veganisieren wollten, ist eigentlich das Gegenteil wahr, nämlich dass die internationale Tierindustrie erfolgreich die Welt karnisiert. Aber das nur am Rande.
8.3 Was man aus veganer Perspektive gleichwohl zugeben muss: Es ist auf Basis vorhandener Studien unklar, wie eine komplett vegane Welt in verschiedenen Regionen der Welt im Einzelnen aussehen würde und mit welchen ökologischen Vor- und Nachteilen das jeweils einherginge. Das gilt im Übrigen auch für die Situation in Deutschland: Es gibt keine Untersuchungen dazu, welche Nahrungsmittel auf welchen Flächen mit welchen Fruchtfolgen im Einzelnen erzeugt werden sollten und welche spezifischen Ernährungsmuster sowohl ökologisch sinnvoll als auch bedarfsdeckend (inklusive Mikronährstoffe) wären. Dazu bräuchte es umfassende, komplexe Modellierungsstudien, die es bisher nicht gibt.
8.4 Zusammengefasst: Wenn es um die Vision einer komplett veganen Welt geht, gibt es also noch einige Unklarheiten. Daraus folgt aber wiederum nicht, dass die Vision insgesamt nicht erstrebenswert sein kann.
8.5 Warum reden wir überhaupt so viel darüber, wie attraktiv eine komplett vegane Welt wäre? Gegeben, wie weit wir heute von so einer Vision entfernt sind, handelt es sich bei der Diskussion darüber oft um eine Ablenkungsdebatte. Wenn man zum Beispiel eine Reduktion der Tierhaltung fordert, ist es eine beliebte Strategie der Verteidiger:innen des Status quo, die Frage zu stellen, wie denn eine komplett vegane Welt aussehen sollte. Und solange man sich darüber streitet, wird die vordringliche Forderung, die Tierhaltung zu reduzieren, gar nicht mehr besprochen.
Aber es ist nicht nur eine Ablenkungsdiskussion, denn es ist ja die Vision, die sich aus denselben tierethischen Argumenten ergibt, die auch den individuellen Veganismus begründen. Wenn diese Vision gar nicht sinnvoll wäre, würde das die tierethischen Begründung des Veganismus insgesamt gefährden. Jetzt kommen wir also zu der Frage, ob es zwischen ökologischen und tierethischen Zielen einen Konflikt gibt bzw. wie wir damit umgehen können.
Stehen Tierethik und Umwelt- und Klimaschutz im Konflikt?
9. Eine tierethische Argumentation geht so: Viele Tiere sind empfindende Lebewesen, die ebenso ein Recht auf Leben, Wohlbefinden und Erfüllung ihrer vielfältigen Bedürfnisse haben wie wir. Deshalb ist es falsch, sie für unsere Zwecke einzusperren, ihnen Leid zuzufügen, sie in ihren Bedürfnissen massiv einzuschränken oder sie zu töten – zumindest dann, wenn das für die Erfüllung unserer Bedürfnisse nicht notwendig ist. Darüber hinaus müssen wir generell unsere Einstellung und unser Verhältnis zu Tieren verändern: Anstatt sie als Waren und Ressourcen für unsere Zwecke anzusehen und zu behandeln, erkennen wir sie als wertvolle Individuen an, die unser Mitgefühl und unsere Solidarität verdienen. Jagd, Fischerei und Nutztierhaltung sind dann nicht nur deswegen falsch, weil wir dabei ohne Not Tieren Leid zufügen und sie töten, sondern auch deshalb, weil wir Tiere dabei zwangsläufig als weniger wertvoll ansehen. Ebenso schätzen wir Tiere zwangsläufig gering, wenn wir sie oder ihre Körperprodukte essen und sie damit als Nahrungsmittel für unseren Gebrauch kategorisieren. Daraus ergibt sich, dass wir damit aufhören und die Ernährung auf individueller und gesellschaftlicher Ebene vegan organisieren sollten. Zusätzlich sollten wir uns alle Mühe geben, wildlebende Tiere so wenig wie möglich zu schädigen.
9.1 Dieser Argumentation zufolge ist das beste Ernährungssystem also vegan. Wenn wir dagegen nur auf allgemeine Umwelt- und Klimaauswirkungen wie Landverbrauch und Emissionen gucken, ohne individuelle Tierrechte zu berücksichtigen, ist – wie oben dargestellt – das beste Ernährungssystem womöglich/wahrscheinlich nicht komplett vegan. Das ist also offensichtlich ein Konflikt. Zugleich ist wichtig zu sehen, dass die beiden Visionen viel näher aneinander sind als sie jeweils an der aktuellen Welt sind, denn für beide müssen Produktion und Konsum von Tierprodukten drastisch sinken.
9.2 Die Frage ist jetzt, wie wir mit diesem Konflikt umgehen. Ich denke, wir müssen uns klar machen, dass es sich nicht um zwei irgendwie gleichberechtigte oder gleichrangige Perspektiven handelt – so wird es ja oft dargestellt, wenn man zum Beispiel davon spricht, dass es eben Menschen gibt, denen das Klima wichtig ist, und andere Menschen, denen Tierethik wichtig ist. Zwar ist das sicher so, aber das heißt nicht, dass es gleichsam beliebig ist und jeder sich nach eigenen Vorlieben eine Perspektive auswählen kann.
Ich glaube, dass die (tier-)ethische Perspektive grundlegender ist und daher für andere Überlegungen den Rahmen vorgeben muss – nämlich genauso wie die Ethik im Hinblick auf Menschen den Rahmen für Umwelt- und Klimaschutz vorgibt. Denn da ist die Sache ja ziemlich klar: Emissionen zu sparen oder Artenvielfalt zu bewahren sind generell keine Ziele, die auf Kosten von Menschenrechten durchgesetzt werden sollten. Aus der tierethischen Argumentation folgen aber Tierrechte, die ähnlich stark sind wie Menschenrechte. Und es folgen auch Einstellungen gegenüber Tieren, die unseren Einstellungen gegenüber Menschen ähneln, die wir durchgehend höher gewichten als Umwelt- oder Klimaschutz. Zum Beispiel: Genauso wie es ressourcentechnisch teilweise sinnvoll sein könnte, Tiere zu essen, wäre es ja unter bestimmten Umständen ressourcentechnisch sinnvoll, bei Unfällen gestorbene Menschen zu essen. Dass das für uns grotesk erscheint, zeigt unsere Einstellung gegenüber Menschen – unter keinen Umständen sind sie für uns Nahrungsmittel.
9.3 Wenn wir die tierethische Perspektive höher gewichten als die bloße Umwelt- und Klimaperspektive, heißt das, dass all die Überlegungen und Rechnungen, die ich weiter oben angestellt habe, eigentlich schon problematisch sind, weil dabei Tiere nur als Waren und Ressourcen vorkommen. Hier setzt auch eine andere Kritik an der Idee an, dass wir Veganismus mithilfe von Umwelt- und Klimaschutz begründen sollten: Bei dieser Argumentation macht man sich ja zwangsläufig den Ressourcenblick auf Tiere zu eigen, anstatt starke Tierrechte zu vertreten. Ich sehe das Problem, aber finde es trotzdem sinnvoll, sich teilweise auch dieser Argumentation zu bedienen, weil man damit eben auch Leute zumindest ein Stück weit mitnehmen kann, die von der tierethischen Perspektive noch nicht überzeugt sind.
Die eine Strategie, mit dem Konflikt der beiden Perspektiven umzugehen, besteht also darin zu argumentieren, dass die Tierrechtsperspektive analog zur Menschenrechtsperspektive grundlegender sein sollte.
9.4 Mir scheint noch eine andere Strategie sinnvoll: Nämlich zu sagen, dass die Umwelt- und Klimaschutzperspektive in der Form, wie ich sie oben eingenommen habe, für sich genommen problematisch ist, eben weil ihr ein ethischer Rahmen fehlt – es ist eine einseitige, rein technische Perspektive, in der das höchste Ziel darin besteht, Emissionen zu sparen bzw. Land- und Ressourcenverbrauch zu reduzieren. Aber warum bzw. für wen? „Die Umwelt“ oder „das Klima“ sind ja keine für sich schützenswerten Dinge. Sie sind immer nur insofern wertvoll, als sie Lebensbedingungen für fühlende Wesen darstellen. Und wenn wir dabei nur an Menschen denken, ist das schlicht eigennütziger Anthropozentrismus, der sich nicht rechtfertigen lässt. Sobald wir aber Tiere mitdenken, kommt die tierethische Perspektive automatisch mit hinein.
Anders gesagt: Es ist eigentlich absurd, wenn in Umwelt- und Klimadiskursen die fühlenden Tiere, die von all unseren Entscheidungen betroffen sind, gar nicht vorkommen. Warum wollen wir denn Ökosysteme schützen, wenn nicht auch für diejenigen, die darin leben? Wie können wir einerseits sagen, dass wir „die Umwelt“ erhalten wollen, aber andererseits die Tiere, die Teil dieser Umwelt sind, töten, um sie aufzuessen? (Wie es Fans einer ökologischen Jagd vertreten.) Mir kommt das mindestens auf Ebene der Einstellungen widersprüchlich vor.
9.6 Nun könnte jemand aber argumentieren, dass es trotzdem auch für Tiere, also im Sinne der Tierethik, insgesamt besser wäre, wenn wir, wie oben geschildert, auf Kosten einzelner Tiere Landverbrauch und Emissionen einsparen würden. Eben weil es auch für Tiere wichtig sei, dass wir Umweltzerstörung und Klimakatastrophe so weit wie möglich abbremsen. Kommt hier quasi derselbe Konflikt von Perspektiven auf anderem Level wieder? Nur wenn wir eine Tierethik vertreten, die sich utilitaristisch auf Gesamtbilanzen von Leid oder Tod fokussiert. So eine Tierethik erzeugt allerdings andere Schwierigkeiten: Dass in diesem Rahmen ziemlich unklar ist, was überhaupt „für Tiere insgesamt“ gut ist – es gibt ja zum Beispiel durchaus plausible Überlegungen dahingehend, dass das Leid bei Wildtieren so groß ist, dass es eigentlich im Sinne der Leidreduktion besser ist, je weniger Tiere es gibt. Diese Überlegungen führen zu sehr kontraintuitiven, aber in diesem Rahmen kaum vermeidbaren Konsequenzen. Hier ist nicht der Raum dafür, das ausführlich zu diskutieren, und ich bin bei diesem Thema generell sehr unsicher, daher sind die folgenden Punkte eher zaghafte Gedanken als fundierte Argumente.
9.7 Ich kann mir vorstellen, dass wir aus den Problemen nur herauskommen, indem wir den einseitig-technischen Fokus auf Landverbrauch und Emissionen (oder Leid) ein Stück weit beiseite lassen und stattdessen wieder die Einstellung gegenüber Tieren – und der Welt insgesamt – in den Vordergrund rücken. Das heißt letztlich, indem wir wiederum die Perspektive der individuellen Tierrechte (inklusive entsprechender Einstellungen) priorisieren. Also sagen: Das wichtigste Ziel ist nicht, in irgendeiner Bilanz am besten abzuschneiden, sondern als erstes müssen wir den Respekt und das Mitgefühl für andere Lebewesen wieder gewinnen und unser Handeln davon leiten lassen.
Vielleicht könnte daraus auch ein psychologisch-soziologisches Argument werden: Um uns als Gesellschaft im großen Stil so zu ändern, dass wir nicht mehr so umweltzerstörerisch und klimaschädlich agieren, müssen wir grundlegend unsere Kultur und unsere Einstellungen gegenüber unserer Um- oder besser Mitwelt verändern – und dazu gehört eben, Respekt vor anderen Lebewesen um ihrer selbst willen zu haben, anstatt sie nur als Ressourcen für unsere Ernährung oder als Staffage in Ökosystemen zu sehen.
9.8 Und hier könnten vielleicht beide Perspektiven wieder zusammenrücken: Umwelt- und Klimaschutz, richtig verstanden, dürfen nicht nur darin bestehen, Emissionen oder Landverbrauch zu reduzieren oder eine messbare Artenvielfalt zu erhöhen, sondern müssen auch bedeuten, eine respektvolle, mitfühlende Einstellung gegenüber unserer Mitwelt zu stärken. Und genau darauf zielt letztlich auch der Veganismus als ethisches Programm.
10. Zum Schluss muss ich nochmal betonen, wie weit entfernt die Überlegungen in diesem Artikel davon sind, was in Anbetracht der Realität praktisch gerade relevant ist: Dass wir die grausame und zerstörerische Tierhaltung in kurzer Zeit zurückbauen und eine umfassende Ernährungswende organisieren. Die Diskussionen zwischen Vertreter:innen verschiedener Perspektiven nützen im Gegensatz dazu meist vor allem denjenigen, die weder Umwelt- noch Klimaschutz noch Tierrechte wollen. Das heißt nicht, dass wir sie nicht führen sollten (sonst hätte ich nicht so einen langen Blogartikel dazu geschrieben). Aber es heißt, dass wir uns damit nicht zu lange aufhalten sollten und dass wir uns von den kleineren Differenzen keinesfalls davon abhalten lassen sollten, für die praktisch relevanten Schritte effektiv zusammenzuarbeiten. In diesem Sinne – auf die Transformation! Ihr findet mich wieder bei Faba Konzepte 😉