Marsmenschen lesen top agrar

… ugreen-163507_960_720nd wundern sich, wie seltsam unsere Gesellschaft organisiert ist.

Demokratie heißt, so haben die Marsmenschen bei ihrem letzten Besuch auf der Erde erzählt bekommen, dass die Menschen selber bestimmen, wie sie zusammenleben und wichtige Dinge gemeinsam regeln wollen. Jetzt lesen die Marsmenschen die Landwirtschaftszeitung top agrar, Printausgabe vom Ende September, und sind verwirrt. Schon im Editorial geht es los. Da heißt es, eine Ministerin habe Vorschläge für die Agrarpolitik gemacht, die nicht allen Leuten gefallen. Wenn die SPD-Frau sich durchsetzt, so wären die Folgen klar, steht da:

„Wir hätten dann landwirtschaftliche Betriebe, die ihre Tiere so hielten und ihr Getreide so anbauten, wie sich das die Verbraucher erträumen.“p1060471

Moment mal, denken die Marsmenschen – zur Zeit ist das also nicht der Fall? „Wir haben Akzeptanzprobleme beim Pflanzenschutz und bei der Tierhaltung.“ Das ist doch komisch. Sie müssen bei der Erklärung der Demokratie etwas missverstanden haben, denken die Marsmenschen.

Mini-Veränderungen unmöglich

Nun, aber jetzt soll das ja wohl geregelt werden, wenn der Plan dieser Ministerin umgesetzt wird. Der Autor des Editorials sieht das allerdings nicht so. Wenn die Betriebe so wären, wie die Verbraucher es wollen, dann wären sie nicht „wettbewerbsfähig“.

„Die Agrarmärkte sind globalisiert. Wer zu teuer produziert, hat keine Chance. Dann kommt die Ware eben aus dem Ausland.“

Was das heißt, verstehen die Marsmenschen besser anhand eines Artikels, der später im Heft steht: „Sind deutsche Ferkel bald Mangelware?“ Während die Marsmenschen noch verdauen, dass auf der Erde viele Millionen Säugetiere in Käfigen gehalten und engen Buchten „gemästet“ werden, damit die Menschen sie dann essen können, lesen sie schon weiter:

„Auch wenn deutsche Ferkel momentan der Renner sind und gut bezahlt werden, mittelfristig besteht die Gefahr, dass einheimische Tiere Mangelware werden. Schuld ist in erster Linie die ausufernde Auflagenflut, die den Ferkelerzeugern das Leben schwer macht. Kein anderer Produktionszweig muss so oft Geld in Umbaumaßnahmen investieren.“

Deshalb würde wop1060473möglich der „Selbstversorgungsgrad“ mit Ferkeln von 80 auf 65 % zurückgehen. Die Marsmenschen überlegen: Die Ferkelerzeuger müssen ihre Ställe umbauen, weil die Gesetze geändert werden, damit es Tieren besser geht. Und solche Gesetze werden ja theoretisch von der Bevölkerung selbst gemacht, oder? Die Marsmenschen haben gelernt, die Gesetze werden von Leuten gemacht, die dabei die ganze Bevölkerung repräsentieren sollen. Also die neuen Gesetze sollten das wiedergeben, was die Menschen wollen – das heißt, die Menschen wollen, dass es den Tieren besser geht. Die bevorstehenden Veränderungen scheinen allerdings ziemlich minimal zu sein. Besonders viel Angst haben die Ferkelerzeuger z. B. davor, dass sie die Käfige für die Mutterschweine vergrößern müssen:

„Das Oberverwaltungsgericht Magdeburg hat im letzten Jahr entschieden, dass eine im Kastenstand gehaltene Sau die Möglichkeit haben muss, jederzeit eine Liegeposition einzunehmen, bei der ihre Gliedmaßen auch an dem vom Körper entferntesten Punkt nicht an Hindernisse stoßen. Im Klartext bedeutet das nichts anderes, als dass der Kastenstand so breit sein muss wie die Sau hoch ist.“

Die Marsmenschen können sich kaum vorstellen, dass Schweine, die sie als sehr unternehmungslustige Tiere kennengelernt haben, so leben müssen. Aber genau diese winzige Vergrößerung des Kastenstands wäre ein Problem für die Ferkelerzeuger, verstehen sie, weil es teuer ist, die Ställe umzubauen.

Also die Leute wollen, dass es den Tieren besser geht. Aber wenn das mit Gesetzen umgesetzt wird, dann kaufen die Schweinemäster ihre Ferkel aus Dänemark und Holland ein, wo die Bedingungen beim Alten bleiben. Und die Leute essen dann das Fleisch von den Schweinen, egal wo die Ferkel herkommen. Ist doch irgendwie absurd, denken die Marsmenschen.

Werbung

green-163507_960_720Die deutschen Ferkelerzeuger und auch andere Landwirte wollen nicht, dass das passiert, denn dann müssten sie ihre Betriebe dichtmachen und hätten keine Arbeit mehr. Die Marsmenschen verstehen nicht so recht, wie das sein kann, dass jemand keine Arbeit mehr hat – auf dem Mars wird einfach die Arbeit, die zu tun ist, aufgeteilt. Natürlich beschweren sich da immer auch manche Marsmenschen, aber wenn eine Person gar keine Arbeit abbekommen würde, wäre das doch eher gut für sie, dann könnte sie sich einfach selber aussuchen, wo sie noch mithilft. Auf der Erde wollen manche Leute aber offenbar möglichst viele Ferkel erzeugen.

Also wollen die Landwirt*innen verhindern, dass die Gesetze für die Tierhaltung so verändert werden, dass es den Tieren ein bisschen besser geht. Wie sie das anstellen wollen, entnehmen die Marsmenschen einem anderen Artikel in der Zeitschrift. Da wird ein Mensch interviewt, der in einer Firma arbeitet, die Futter für die Tiere herstellt. Er heißt Stefan Nießing und er hat eine Idee: Werbung.

Stefan Nießing schlägt vor, dass alle Mischfutterhersteller pro Dezitonne Mischfutter, die sie verkaufen, 10 Cent an eine Stiftung zahlen, die dann Werbung und Öffentlichkeitsarbeit für die Landwirtschaft macht. Denn das macht die Landwirtschaft zur Zeit viel zu wenig, sagt der Nießing im Interview.

„Auch für die Agrarwirtschaft gilt der alte Grundsatz: Wer nicht wirbt, der stirbt. Andere Industriebereiche geben deutlich zweistellige Prozentsätze des Umsatzes für Werbung aus. Davon ist die Landwirtschaft weit entfernt.“

Das Konzept von Werbung verstehen die Marsmenschen zwar auch noch nicht so richtig. Wenn wir gemeinsam entscheiden, was wir brauchen, und dann aufteilen, wer das wie herstellt, was für einen Zweck hat dann Werbung? Aber sie sehen schon, dass das so nicht läuft auf der Erde. Da sieht es häufig so aus: Leute tun sich zusammen und stellen Produkte her, von denen sie gar nicht wissen können, ob die jemand haben will. Dann drucken sie Plakate und drehen Filme, in denen gesagt wird, warum man diese Produkte kaufen sollte. Und wenn dann viele Menschen die Produkte kaufen, können die Hersteller damit im Nachhinein auch die Plakate und Filme bezahlen. Die Marsmenschen finden das auch deshalb so komisch, weil sie gehört haben, dass es auf der Erde ein Problem mit der Atmossphäre gibt – irgendwie wird insgesamt zu viel hergestellt und dafür werden zu viele Stoffe auf der Erde verbraucht.

Die Marsmenschen vep1060472rstehen nicht, wie man in so einer Situation auf die Idee kommt, noch mehr Produkte zu machen – vor allem, wenn man dann auch noch ganz viele Bäume fällen muss, um Papier für die Plakate herzustellen, und ganz viel Fernseher bauen, um die Werbefilme in der Straße abzuspielen, wo Leute eigentlich nur spazierengehen wollen, nur damit überhaupt jemand die Produkte dann haben will. Ist doch irgendwie absurd, denken die Marsmenschen.

Bei der Landwirtschaft, die ja Essen herstellt, finden die Marsmenschen das aber noch besonders komisch – denn essen muss doch sowieso jeder. Und jetzt sollen die Leute nicht nur für ihr Essen bezahlen – also andere Sachen eintauschen – sondern indirekt auch noch dafür, dass ihnen Plakate vor die Nase gehängt und Werbefilme vorgespielt werden. Es geht dabei um ziemlich viel Geld, sagt Nießing:

„Um unsere Inhalte nachhaltig in den Köpfen der Menschen zu verankern, brauchen wir mindestens 15 Mio. €/Jahr, zum Beispiel für Botschaften vor der Tagesschau.“

Erst im Kontext des ganzen top agrar-Hefts wird den Marsmenschen klar, was das bringt: Es geht um das Image der Landwirtschaft, das gut bleiben muss, damit die gewählten Repräsentanten der Bevölkerung nicht denken, dass sich etwas ändern sollte. So sagt auch Herr Nießing auf die Frage, „Was haben die Hersteller davon?“:

„Eine gesellschaftlich akzeptierte Landwirtschaft, die profitabel Tiere halten kann. Ohne solche Kunden [gemeint sind hier die profitabel wirtschaftenden Tierhalter] können wir [die Futtermittelhersteller] unser Geschäft auch nicht erfolgreich betreiben.“

Das heißt also, überlegen die Marsmenschen, die Leute sollen letztlich dafür zahlen, dass sie die Landwirtschaft besser finden, damit die sich nicht verändert oder ins Ausland umzieht, wo sie sich auch nicht verändert. Obwohl die Leute eigentlich wollen, dass sich die Landwirtschaft verändert, denn sonst bräuchte es ja die Werbung nicht. Ist doch irgendwie absurd, denken die Marsmenschen.

Hoffnung Export

Noch ein anderer Artikel macht sie ziemlich stutzig: „Milch: Auf nach China?“ Die Marsmenschen müssen erst nachlesen, was Milch ist, und schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. Da werden also Säugetiere gefangengehalten und künstlich schwanger gemacht, nur um ihnen nach der Geburt das Kind dann wegzunehmen. Um das Kind geht es aber gar nicht, sondern um das, was der Körper des Tiers dann als Nahrung für das Kind produziert – das wird dann mit Maschinen abgepumpt und in Flaschen an Menschen verkauft. Wenn die Tiere keine Milch mehr produzieren, werden sie umgebracht. Es gibt offenbar Menschen, die sich darauf spezialisiert haben, Kühe zu diesem Zweck in großen Gebäuden einzusperren und die Milch abzuzapfen.

Und offenbar, so verstehen die Marsmenschen, zapfen diese Menschen zur Zeit immer mehr Milch von immer mehr Kühen ab, obwohl ihre Mitmenschen gar nicht mehr Milch trinken wollen als vorher. Das hat irgendwie mit dem Markt und dem Preis zu tun, aber wie das genau funktioniert, ist den Marsmenschen nicht klar, es scheint auf jeden Fall ja nicht so ein schlaues System zu sein. Denn dabei kommt offenbar heraus, dass es mehr Milch gibt, als gebraucht wird, und es gerade deshalb denen schlecht geht, die die Milch produzieren – und zwar sowohl den „Milchbäuer*innen“, die zu wenig Geld verdienen, wie auch den Kühen, für die das körperlich total anstrengend ist und die zum Dank für die Anstrengung noch früher umgebracht werden.

Der Kurztext am Anfang des Artikels über Milch lautet:

„Ein chinesischer Milchbauer bekommt pro Kilogramm Milch doppelt so viel wie sein deutscher Kollege. Trotzdem kommt die Milcherzeugung in China nicht so richtig voran. Eine Chance für uns, meint Heribert Breker von der Landwirtschaftkammer NRW.“

p1060474Die deutschen Milchbäuer*innen hoffen also für die Zukunft, so lesen die Marsmenschen, dass die Leute in China mehr Milch verbrauchen. Dabei können 90 % der Chines*innen die Milch von Kühen gar nicht richtig verdauen. „Trotz der Unverträglichkeit steigt der Konsum, weil nicht alle Betroffenen auch körperliche Beschwerden haben“, heißt es in dem Artikel.

Die Leute auf der einen Seite der Erde, die heute Kühe halten und Milch abzapfen, hoffen also, dass sich das in Zukunft weiter oder wieder lohnt, weil sie die Milch dann auf die andere Seite der Erde transportieren können, wo sie Menschen verzehren, die eigentlich gar keine Milch vertragen.

Dabei fällt den Marsmenschen auch wieder dieses Atmossphärenproblem ein und sie erinnern sich, dass das Problem auch daher kommt, dass zu viele Sachen auf der Erde hin und her transportiert werden. Die Marsmenschen lesen noch ein bisschen nach zu diesem Problem. Der Klimawandel wird katastrophale Auswirkungen für die Menschheit auf der Erde haben, lesen sie. Unter anderem wird die Erzeugung von Nahrungsmitteln und das Einkommen von Landwirt*innen in Zukunft erschwert werden. Nicht nur das Transportieren von Sachen, sondern auch das Halten von Tieren, insbesondere von Kühen, verstärkt den Klimawandel. Aber anstatt weniger Milch herzustellen, hoffen die Leute darauf, dass die Chinesen mehr Milch trinken, obwohl die auf der anderen Seite der Erde wohnen. Ist doch irgendwie absurd, denken die Marsmenschen.

Staat und Markt

Ist denn noch niemand auf die Idee gekommen, weniger Milch herzustellen? Oder vielleicht gar keine mehr, wenn das doch für die Kühe sowieso mies ist? Da sehen die Marsmenschen, ganz vorn im top agrar-Heft, dass tatsächlich schon jemand auf die Idee gekommen ist – oder? Sie lesen:p1060476

„Auch die 116 Millionen Euro aus dem zweiten Teil des EU-Hilfspaketes sollen aller Voraussicht nach ausschließlich Milchviehhaltern zugutekommen. Wer seine Produktionsmenge reduziert oder konstant hält, kann womöglich mit einem Zuschuss von 0,36 Cent je Kilogramm Milch rechnen.“

Moment mal, denken die Marsmenschen, was sind das jetzt für Gelder? Sonst wird doch immer gesagt, Produkte müssen getauscht werden zwischen denen, die sie herstellen und denen, die sie haben wollen. Aber dieses Geld kommt ja nicht direkt von den Leuten, die Milch trinken wollen – sondern von Europa? Und Europa hat das Geld letztlich von den Leuten, die Steuern zahlen, also von fast allen? Aber wieso sollen jetzt diese Gelder dafür dafür ausgegeben werden, dass weniger oder auch genauso viel Milch produziert wird? Und warum heißt das Ganze zugleich „Hilfspaket“ für die Milchbauern? Tatsächlich ist das wohl doch nicht die Idee, dass insgesamt und langfristig weniger Milch aus Kühen gezapft wird.

p1060475Ein paar Seiten weiter lesen sie noch einen Artikel, bei dem sie völlig vom Glauben abfallen, dass auf der Erde die Dinge vernünftig organisiert sind. „Ohne EU-Betriebsprämie geht es derzeit nicht.“ Da steht doch tatsächlich drin, dass bei landwirtschaftlichen Betrieben über 50 % des Gewinns aus Direktzahlungen der EU stammen – also letztlich auch aus Steuergeldern. So gut wie alle Landwirt*innen können also offenbar nur überleben, weil sie Geld bekommen, über das theoretisch die Repräsentant*innen der Bevölkerung entscheiden. Gleichzeitig können aber diese Repräsentant*innen nicht die Regeln vorgeben, nach denen in der Landwirtschaft die Tiere gehalten oder die Äcker bewirtschaften werden sollen, weil die dann nicht mehr wettbewerbsfähig wären. Über die Produktionsbedingungen soll also dieser „Markt“ entscheiden, obwohl der die Produkte gar nicht finanzieren kann.

Hinzu kommt noch, so der letztgenannte Artikel, dass die Direktzahlungen im Durchschnitt fast vollständig für Pachtgebühren ausgegeben werden – also weil die Landwirt*innen das Land, das sie bewirtschaften, von irgendjemandem mieten müssen, dem das Land gehört. (Mit diesem Konzept von Eigentum kommen die Marsmenschen sowieso nicht klar.)

Damit wir alle essen können, müssen wir also über Steuern Geld an Landwirt*innen bezahlen, die aber nicht das machen, was wir wollen, sondern das, was am billigsten ist, worunter nicht nur Tiere leiden, sondern Menschen anderswo, in der Zukunft und letztlich wir alle. Ganz zu schweigen davon, dass von den Produkten dann noch ein Drittel weggeworfen wird. Und dieser Zustand lässt sich unter gegebenen Bedingungen nicht grundlegend ändern, ohne dass die Landwirt*innen arbeitslos werden und das Essen stattdessen woanders unter schlechteren Bedingungen hergestellt wird. Und als Lösung wird jetzt vorgeschlagen, am Verhältnis zwischen Verbraucherwünschen und Wirklichkeit so zu arbeiten, dass die Wünsche angepasst werden anstatt die Wirklichkeit. Deshalb sollen jetzt Plakate aufgehängt und Fernsehspots gedreht werden.

green-163507_960_720Die Marsmenschen meinen: Mit der größten Phantasie könnten wir uns so eine absurde Weise, sich als Gesellschaft zu organisieren, nicht ausdenken. Oder kann uns das jemand erklären?

2 Replies to “Marsmenschen lesen top agrar”

  1. Sehr interessanter Artikel. Hoffe Sie veröffentlichen in regelmäßigen Abständen solche Artikel dann haben Sie eine Stammleserin gewonnen. Vielen dank für die Informationen.

    Gruß Anna

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