In ihrem insgesamt sehr lehrreichen Buch „Die kleinste gemeinsames Wirklichkeit“ unterzieht die Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim verschiedene vieldiskutierte Streitfragen einer wissenschaftlichen Prüfung. In einem Kapitel geht es um Tierversuche unter der Überschrift „Sind Tierversuche ethisch vertretbar?“
Ich fand es sehr enttäuschend, dass Nguyen-Kim darin auf die zentralen Argumente, die innerhalb der Tierethik diskutiert werden, gar nicht eingeht. Stattdessen stellt sie es so dar, als ob man sich nur über die Frage, wie nützlich bzw. medizinisch sinnvoll Tierversuche sind, rational auseinandersetzen könne. Alles Weitere sei eine reine Meinungsfrage, bei der sich die jeweiligen Ansichten nicht weiter begründen ließen. Auch an anderen Stellen finde ich ihre Darstellung überraschend unangemessen und möchte meine Kritik im Folgenden recht ausführlich erläutern. Ich glaube, dass eine so genaue Auseinandersetzung mit diesem Kapitel lohnend ist, weil es ziemlich typisch für viele Diskussionen zu Tierversuchen ist. Ich werde dabei keine der naturwissenschaftlichen oder medizinischen Behauptungen von Nguyen-Kim in Frage stellen, sondern nur die allgemeine Argumentation und die ethische Diskussion kritisieren.
Zunächst zum Inhalt des Kapitels:
Nguyen-Kim beginnt mit dem Trolley-Problem, einem bekannten Gedankenexperiment aus der Ethik. Es soll veranschaulichen, dass es Situationen gibt, in denen alle Handlungsoptionen Opfer produzieren und wir uns daher nur für das kleinere Übel, aber nicht für gar kein Übel entscheiden können.
Im nächsten Abschnitt zeigt Nguyen-Kim Verständnis für das Entsetzen, dass viele Menschen in Anbetracht von Undercover-Recherchen aus Tierversuchslaboren empfinden; danach erklärt sie, wie irrational unser Verhältnis zu Tieren insgesamt ist, z.B. im Hinblick auf unsere unterschiedlichen Einstellungen gegenüber Haustieren, Nutztieren und Versuchstieren.
Im Hauptteil versucht sie die Frage zu klären, welche Rolle Tierversuche heute noch für die Forschung spielen, was ein Ende von Tierversuchen bedeuten würde und wie gut die alternativen Methoden sind. Ihr Fazit: Die alternativen Methoden machen tolle Fortschritte, in Zukunft wird noch viel mehr möglich sein, aber „noch sind wir technologisch weit davon entfernt, Tierversuche ganz ersetzen zu können.“
Daraufhin erklärt sie, dass eine Abwägung von Nutzen und Schaden einzelner Versuche gerade in der Grundlagenforschung schwer vorzunehmen sei, weil der Nutzen noch nicht abzuschätzen sei – das sei aber kein Argument gegen diese Forschung, weil die anwendungsbezogene Forschung immer auf Vorarbeiten aus der Grundlagenforschung beruhe.
Im letzten Abschnitt versucht sie dann auf Basis der zuvor zusammengestellten Faktenbasis eine ethische Einschätzung zu liefern: Aus ihrer Sicht sind Tierversuche ein Trolley-Problem, weil sie zwar schlimm sind, der Verzicht auf die Versuche aber noch schlimmer – weil wir entweder unfreiwillige Menschenversuche machen müssten oder die Forschung in einigen Bereichen verlangsamt oder gelähmt würde. Tierversuche seien daher aus Sicht vieler Forscher*innen das kleinere Übel. Es sei aber legitim, das anders zu sehen und einen ethischen Sonderstatus für Menschen abzulehnen. Dazu führt sie ein weiteres Gedankenexperiment an, in dem wir entscheiden müssen, ob wir einen Hund oder einen Menschen vor dem Ertrinken retten. Die meisten Leute würden sich für den Menschen entscheiden. Zum Schluss sagt sie, dass sie selbst Tierversuche auch für das kleinere Übel hält und daher für ethisch vertretbar.
Ich finde die medizinischen Ausführungen interessant und lehrreich und ich glaube auch, entgegen den Darstellungen einiger Tierversuchsgegner*innen, dass Tierversuche wichtige Erkenntnisse liefern können und es mindestens in einigen Bereichen die Forschung erschweren würde, wenn keine Tierversuche mehr gemacht würden. Aber daraus folgt eben noch nicht, dass sie ethisch vertretbar sind. Doch der Reihe nach.
Hier sind meine Kritikpunkte an dem Kapitel im Einzelnen:
1. Begriff der Notwendigkeit
Nguyen-Kim präsentiert mehrfach die Frage, ob Tierversuche „notwendig“ sind, als eine reine Faktenfrage, die auf Basis der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse beantwortet werden müsse – insbesondere anhand des Forschungsstands zu den Alternativmethoden (S. 293-294, 300). Dabei steckt im Notwendigkeitsbegriff schon Ethik drin: Wir können die Frage nur so stellen, wenn wir schon davon ausgehen, dass Tierversuche (im Unterschied zu unfreiwilligen Menschenversuchen) ein legitimes Mittel sind, um einen bestimmten wichtigen Zweck (einen schnelleren medizinischen Fortschritt) zu erreichen.
Wir würden nie fragen, ob Menschenversuche für den medizinischen Fortschritt notwendig sind – das verbietet die Ethik. Wenn wir fragen, ob Tierversuche notwendig sind, setzen wir also eine bestimmte ethische Position schon voraus, die eigentlich erst diskutiert werden muss. Den Punkt erkläre ich hier genauer. Zwar adressiert Nguyen-Kim später die zentrale ethische Frage noch, anders als viele andere Verteidiger*innen von Tierversuchen. Ihre Auseinandersetzung damit ist aber denkbar kurz (siehe Punkt 6) und durch ihre früheren Formulierungen hat sie eben schon eine Antwort unterschwellig nahegelegt.
2. Nobelpreise und bisheriger Fortschritt
Nguyen-Kim führt die Tatsache, dass die allermeisten Nobelpreise in der Medizin für Tierversuchsforschung vergeben wurden, als Argument für die Bedeutung von Tierversuchen für die medizinische Forschung an (S. 302). Zugleich suggeriert sie, dass sich daraus auch die weitere Unverzichtbarkeit von Tierversuchen ergibt.
Nun stimmt es zwar sicher, dass Tierversuche wichtige Erkenntnisse geliefert haben. Daraus folgt aber nicht, dass es keinen Fortschritt gegeben hätte, wenn es keine Tierversuche gegeben hätte. Wir wissen schlicht nicht, wie sich die Medizin entwickelt hätte, wenn diese Forschungsmethode nicht zur Verfügung gestanden hätte bzw. wenn die Forscher*innen sie aus ethischen Gründen abgelehnt hätten. Es ist nicht auszuschließen, dass wir heute eine genauso gute oder bessere Medizin hätten. Nguyen-Kim verweist selbst darauf, dass das Verbot von Tierversuchen für Kosmetika im Jahr 2003 dazu geführt habe, dass aus der Not heraus neue tierfreie Testmethoden entwickelt wurden, die oft sogar verlässlicher sind als die entsprechenden Tierversuche (S. 296).
3. Die Ausrichtung der medizinischen Forschung
Generell fehlt mir in dem Kapitel eine gesunde Skepsis gegenüber dem etablierten Status Quo. Auch wenn es plausibel ist, dass bestimmte Versuche schwer zu ersetzen sind, heißt das nicht, dass alle Versuche, die heutzutage durchgeführt werden, sinnvoll oder nützlich sind. Wie in anderen Wissenschaftsbereichen auch kann man doch davon ausgehen, dass es einen gewissen Konservatismus gibt – die einflussreichen Forscher*innen verteidigen die Methoden, mit denen sie selbst ausgebildet wurden und erfolgreich waren; es gibt bestimmte ausgetretene Pfade, bei denen man gute Chancen hat, Anerkennung zu bekommen und Karriere zu machen, wohingegen diejenigen, die neue Wege wagen, größere Risiken eingehen, usw..
Das betrifft nicht nur die konkreten Forschungsmethoden, sondern auch die Ausrichtung der Forschung insgesamt und den Zusammenhang mit anderen Gesellschaftsbereichen – so ist doch ziemlich klar, dass die aktuelle Gesellschaft nicht darauf ausgerichtet ist, möglichst viele Menschen zu retten oder möglichst viele Kranke zu heilen; wenn das so wäre, würde zum Beispiel viel mehr unternommen werden, um zukünftige Pandemien durch Zoonosen zu verhindern (Stichwort Umweltzerstörung und Tierindustrie) und man würde auch im Gesundheitssystem viel mehr auf Prävention setzen (Stichwort gesunde Ernährung, Bewegung etc.).
Durch solche Neuausrichtungen könnte man sicher viele Menschenleben retten bzw. verbessern ganz ohne Tierversuche. Indem Nguyen-Kim diese Fragen noch nicht einmal anreißt, bestätigt sie die übliche Perspektive auf die Forschung als isolierten Bereich, der letztlich nur seinen eigenen Zielen und Erfolgskriterien unterliegt – und je enger diese gefasst werden, desto wichtiger erscheinen auch Tierversuche für das Erreichen dieser Ziele.
4. Die Kosten-Nutzen-Abwägung
Nguyen-Kim beschäftigt sich mit der Abwägung von Kosten vs. Nutzen bei Tierversuchen. Dabei behauptet sie, dass die Abwägung bei der anwendungsbezogenen Forschung nicht so schwer sei:
„Solange man die Anwendung kennt, kann man Kosten (Tierleid) und Nutzen (Entwicklung eines Medikaments vs. Entwicklung einer Feuchtigkeitscreme) gegeneinander abwägen.“ (S. 309)
Dagegen sei es bei der Grundlagenforschung deutlich komplizierter, weil der Nutzen noch nicht abzusehen sei. Trotzdem sei die Grundlagenforschung nicht überflüssig oder „bloßer Neugier“ geschuldet, sondern liefere die Voraussetzungen für jede anwendungsbezogene Forschung.
Aus meiner Sicht ist aber das Problem viel tiefliegender: Auch bei der Entwicklung eines Medikaments, bei dem der Nutzen einigermaßen vorhersehbar ist, lassen sich Nutzen und Schaden nicht sinnvoll oder fair gegenüber abwägen. Es ist nämlich völlig unklar, wie wir die jeweiligen Vor- und Nachteile gewichten sollen. Und das hängt davon ab, wie wichtig wir Tiere nehmen. Ist es ok, 5.000 Mäusen Leid zuzufügen, um einen besseren Hustensaft zu entwickeln? Wie sieht es mit ein paar Millionen Mäusen für die Entwicklung eines Krebsmedikaments aus? Ich habe keine Ahnung, wie man die beiden Seiten der Abwägung sinnvoll quantifizieren sollte. Wenn Nguyen-Kim das einfach findet, scheint sie sich auf ein Bauchgefühl zu verlassen, das sich nicht vernünftig ausbuchstabieren, geschweigedenn begründen lässt. Sie führt das Beispiel der Impfstoffentwicklung in einer Pandemie an und schreibt:
„Die Kosten-Nutzen-Rechnung würde wahrscheinlich für einen Großteil der Menschen aufgehen, würde man sie befragen.“ (S. 307)
Und das soll ethische Legitimität liefern, eine Mehrheitsmeinung? Während Nguyen-Kim sonst immer so auf Belege, Argumente und rationale Auseinandersetzung pocht? Das ist keine ethische Diskussion, das ist Vermeidung der ethischen Diskussion. Denn dafür müsste man sich genau mit den Minderheitenmeinungen befassen, die – mit Argumenten! – dieser vermeintlich fairen Abwägung (eine Abwägung von Menschen und für Menschen) nicht zustimmen.
5. Irreführende Gedankenexperimente
Ich halte beide Gedankenexperimente, das Trolley-Dilemma und das Hund-oder-Mensch-retten-Szenario, für irreführend.
Das Trolley-Gedankenexperiment geht so: Stell dir vor, du siehst, dass ein Zug auf fünf Menschen zurast, die auf einem Gleis gefesselt sind. Du kannst eine Weiche umstellen, um die Menschen zu retten, allerdings tötest du damit einen anderen Menschen, der auf dem anderen Gleis liegt. Die meisten Leute würden hier die Weiche umlegen. Nicht allerdings im zweiten Fall: Hier kannst du die fünf Menschen nur retten, indem du einen großen, schweren Mann von einer Brücke auf das Gleis wirfst. Das würden die meisten Leute nicht machen, obwohl ja das Ergebnis das gleiche ist. Hier zeigt sich schon eine gewisse Komplexität in dem Gedankenexperiment, auf die Nguyen-Kim gar nicht weiter eingeht. In der Diskussion der Grundlagenforschung wendet sie das Gedankenexperiment so an:
„Einen Menschen würden die meisten nicht von der Brücke werfen, ein paar Mäuse schon eher. Doch was, wenn man gar nicht weiß, ob die Mäuse die Menschen wirklich retten können? Das ist das Trolley-Problem der Grundlagenforschung.“ (S. 310)
Das Problem mit dem Gedankenexperiment ist, dass es – wie bei Gedankenexperimenten üblich – einen Einzelfall konstruiert, in dem wir eine Entscheidung zu treffen haben. Würden wir einige Mäuse (wie viele überhaupt?) opfern, wenn wir damit vielleicht einen Menschen retten können? Ich finde das irreführend, weil es sich bei der Frage nach Tierversuchen nicht um eine schwierige Entscheidung in einem außergewöhnlichen Einzelfall handelt, sondern um die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte allgemeine Praxis. Und das macht durchaus einen Unterschied.
Das Trolley-Problem müsste wenn überhaupt so aussehen: Stellen wir uns vor, im ganzen Land werden ständig Leute von Zügen überfahren. Als Gesellschaft könnten wir verschiedene Dinge tun, um mindestens einige Züge zu verlangsamen oder Schutzbarrieren aufzubauen (Stichwort Prävention). Außerdem könnten wir auf hunderten Brücken im ganzen Land stehen und mehrere Millionen Mäuse, Ratten und andere Tiere jedes Jahr runterwerfen, von denen einige – nicht alle – irgendwann, wenn genug andere dazugestapelt werden, tatsächlich mal einen Zug verlangsamen. Das wäre doch eine ziemlich andere Ausgangslage, oder nicht?
Und da ist noch nicht berücksichtigt, dass Krankheit und Tod ja keine Unfälle sind, wie Züge sie verursachen, sondern in gewisser Weise immer zum Leben dazugehören. (Das soll nicht heißen, dass wir sie akzeptieren müssen, nur auf eine Disanalogie hinweisen.)
Was ich sagen will: Auch wer in einem Einzelfall bereit wäre, einige Mäuse zu opfern, um einen Menschen (vielleicht) zu retten, muss nicht automatisch die ganze Praxis gutheißen. Eine Analogie mit einem anderen Gedankenexperiment kann das nochmal veranschaulichen:
Stellen wir uns vor, ein Mann hat ein Kind entführt und hält es irgendwo gefangen, wo es ohne Hilfe sterben wird. Wir haben den Mann in Gewahrsam, aber er verrät uns nicht, wo das Kind ist. Würden wir Gewalt anwenden, um ihn zum Reden zu bringen? Ich könnte mir vorstellen, dass einige Leute das in diesem Fall für gerechtfertigt halten würden. Daraus folgt aber nicht, dass dieselben Leute für die Wiedereinführung der Folter als Methode für die Polizei stimmen würde. Auch hier ist es etwas anderes, ob man es mit einem Einzelfall oder einer allgemeinen Praxis zu tun hat – u.a. wegen der Gefahr des Missbrauchs, aber auch aufgrund von ethischen Überzeugungen darüber, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Das lässt sich aus meiner Sicht auf die Diskussion um Tierversuche übertragen.
Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der es eine allgemeine, standardisierte, routinierte Praxis gibt, hilflosen Wesen einer bestimmten Gruppe Leid und Schaden zuzufügen zugunsten einer anderen Gruppe. Das ist für mich schlicht ungerecht. Und ein schnellerer medizinischer Fortschritt wiegt diese Ungerechtigkeit nicht auf.
Das Hund-oder-Mensch-retten-Gedankenexperiment stellt uns vor die Wahl, entweder einen Hund oder einen Menschen zu retten, die gerade beide drohen zu ertrinken. Es soll auf diese Weise unseren Speziesismus testen, also unsere Tendenz, die eigene Spezies gegenüber anderen zu bevorzugen. Auch wenn es das ein Stück weit leisten mag, ist es auf die Frage der Tierversuche aus meiner Sicht gar nicht übertragbar.
Es ist erstens deshalb irreführend, weil beide in der Gedankenexperiment-Situation schon in Gefahr schweben – wir können nur einen retten. Angemessener wäre die Frage, ob ich einen Menschen retten würde, indem ich einen Hund, der sonst gar nicht beteiligt ist, opfere. Auch das würden viele wohl noch richtig finden, es ist aber eine ganz andere Frage.
Auch hier wird der Unterschied vielleicht durch eine Analogie mit einem Fall von Menschen greifbarer: Wenn meine Freundin und ein fremder Mensch drohen zu ertrinken, würde ich meine Freundin retten. Aber wenn ich einen unbeteiligten fremden Menschen von einer Brücke in den Tod schubsen müsste, um meine Freundin zu retten, würde ich das zwar vielleicht machen, es wäre aber ethisch sicher nicht akzeptabel. Die beiden Fälle sind jedenfalls nicht gleich.
Hinzu kommt zweitens auch hier, dass das Gedankenexperiment suggeriert, es ginge um eine einzelne Entscheidung, obwohl es um die Legitimität einer allgemeinen Praxis geht.
Das Szenario „Mensch retten oder Hund retten?“ hilft uns daher aus meiner Sicht gar nicht weiter, egal wie man es beantwortet.
6. Fehlende Auseinandersetzung mit tierethischen Argumenten
Das größte Manko von Nguyen-Kims Kapitel ist aus meiner Sicht ihre komplette Ignoranz der tierethischen Literatur zu der Tierversuchsfrage. Zwar formuliert sie die ethische Kernfrage einmal recht klar, wieder im Bild des Trolley-Problems:
„Doch warum sollte ich eine schwere Ratte von der Brücke schubsen dürfen, um den Zug aufzuhalten, wenn ich das mit einem Menschen nicht darf?“ (S. 313)
Aber darauf folgt keine Auseinandersetzung mit den einschlägigen tierethischen Argumenten, es werden keine tierethischen Texte zum Thema zitiert, es wird auf keine relevanten Autor*innen verwiesen. Stattdessen schildert Nguyen-Kim das Hund-oder-Mensch-retten-Gedankenexperiment und berichtet von einer Studie, wonach 85 Prozent der Befragten den Menschen retten würden. Das ist alles.
Nicht nur, dass das Gedankenexperiment irreführend ist (siehe Punkt 5) – Nguyen-Kim tut damit wieder so, als ob die ethische Entscheidung an der Stelle eine rein persönliche Bauchentscheidung wäre – oder gar eine, bei der die Mehrheitsmeinung zählt. Klar, es gibt da keine weiteren Fakten zu klären – aber das heißt nicht, dass es keine Argumente mehr gibt.
Gerade weil es Nguyen-Kim sonst immer darum geht, Streitfragen wissenschaftlich zu behandeln, d.h. kritisch und anhand einer Abwägung der besten Argumente zu entscheiden, finde ich den Verzicht auf eine argumentative Auseinandersetzung hier extrem schwach – und auch bezeichnend. Denn tatsächlich sind ja die tierethischen Argumente gegen Tierversuche sehr stark. Ich kenne keine überzeugende Zurückweisung. Indem Nguyen-Kim gar nicht darauf eingeht, entzieht sie sich dieser Diskussion komplett, die für ihre Position gefährlich ist.
Zu den Argumenten, die sie nicht diskutiert, gehört das Folgende: Wir sind uns alle einig, dass es falsch ist, mit Menschen unfreiwillige Experimente zu machen. Wenn es ok sein sollte, mit Tieren solche Experimente zu machen, müssten Tiere sich in einer moralisch relevanten Hinsicht von uns Menschen unterscheiden. Das tun sie aber nicht – denn sie sind ebenfalls empfindungsfähig, haben Bewusstsein, Individualität, ihre eigenen Interessen und Zwecke. Gegen dieses Argument gibt es aus meiner Sicht keine gute Replik.
Das heißt, wer trotzdem an Tierversuchen festhält, nimmt praktisch einfach nur das Recht des Stärkeren für sich in Anspruch. Mit Ethik hat das dann nichts mehr zu tun. Dabei war die ethische Frage doch die Leitfrage des Kapitels.
Ich stimme Nguyen-Kim darin zu, dass es frustrierend ist, wenn in Diskussionen über Tierversuche die medizinische Relevanz der Versuche nicht richtig eingeschätzt wird – und Leute zum Beispiel pauschal und ohne ausreichende Belege behaupten, alle Tierversuche seien komplett sinnlos oder es gäbe schon für alle Tierversuche gute Alternativmethoden.
Aber ich finde es auch sehr frustrierend, dass sich selbst so reflektierte und kritische Denker*innen wie Nguyen-Kim um die zentrale ethische Frage, vor die Tierversuche uns stellen, in dieser Weise herumdrücken.
Wenn es darum geht, eine „kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ zu finden, d.h. eine Basis, auf die wir uns einigen können und auf deren Grundlage wir dann „besser streiten“ können, wie Nguyen-Kim mit ihrem Buch einfordert, dann muss dazu auch gehören, die ethischen Fragestellungen angemessen zu beschreiben, sie nicht durch aufgeladene Begriffe und irreführende Gedankenexperimente zu verzerren und die relevanten Argumente auf den Tisch zu legen.
Wow, das hast du super gut auseinander genommen. Tatsächlich habe ich den Eindruck, dass Mai Thi Nguyen Kim (wie auch viele andere Menschen) nur Naturwissenschaften als Wissenschaften anerkennt. Philosophie und Ethik sieht sie nicht als solche an, hat sich offenbar kaum damit beschäftigt, dass es dort u.a. um methodisch saubere Argumentationsketten geht, und es unwissenschaftlich ist, einfach Voraussetzungen zu treffen ohne sie zu begründen.
Hallo Frau Schmitz,
danke für die sachliche Auseinandersetzung und Kritik an diesem Kapitel!
Ich finde den Vergleich mit dem Folter-Fall in der Polizei bei Kindesentführung tatsächlich sehr erhellend, würde aber wohl zu einem anderen Schluss kommen: *Wenn* wir in diesem Einzelfall akzeptieren, dass die (Androhung von) Folter zu rechtfertigen/akzeptieren wäre, müssten wir das logischerweise auch in anderen, ähnlichen Fällen tun. Das bedeutet aber – wie auch beschreiben – nicht, dass wir das allgemeine Verbot der Folter aufgeben wollen. Wir müssten uns aber unter diesen Voraussetzungen auf ein Vorgehen einigen, dass solche fraglichen Einzelfälle schnell und möglichst zuverlässig prüft und dann ggf. Ausnahmen erlauben kann. Genau das passiert bei Tierversuchen (wenn auch weder schnell noch sonderlich effizient, aber vom Prinzip her): Es wird im Einzelfall geprüft ob ein vernünftiger Grund vorliegt einem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zuzufügen, obwohl das grundsätzlich verboten ist. Das ist das Genehmigungsverfahren.
Von daher halte ich die Analogie für sehr zutreffend, nur dass wir als Gesellschaft derzeit zu verschiedenen Schlüssen kommen: Im Falle der Folter sind wir zumindest, was die derzeitige Gesetzeslage angeht, nicht bereit im Einzelfall Ausnahmen des generellen Verbots zu akzeptieren, bei Tierversuchen sind wir das derzeit schon. Das mag in diesen beiden Fällen ganz verschiedene, auch natürlich historisch gewachsene, Gründe geben, aber die tun glaube ich für den Nutzen der Analogie erstmal nichts zur Sache, da es dabei ja auch um die eigene Einstellung und nicht die Gesetzeslage geht.
Würde mich freuen zu hören, wie Sie dazu denken.
Beste Grüße,
Roman Stilling
Ein guter Kommentar zur Ethik in Bezug auf Tierversuche, wenn wir davon ausgehen, Tierversuche würden dem Menschen einen Nutzen bringen.
Allerdings ist eine solche ethische Debatte überflüssig, da schon aus biomedizinischen Gründen Tierversuche nicht zu vertreten sind.
Bis zu 95% der im Tierversuch als verträglich und wirksam getesteten Medikamente scheitern im anschließenden Menschenversuch (Klinische Phase 1-3), weil sie nicht (wie erhofft) wirken oder gar schaden. – Umgekehrt wissen wir nicht, was im Tierversuch aussortiert wird, uns Menschen jedoch helfen könnte. Bei den Tierversuchen in der Grundlagenforschung sind es unter 1% der Ergebnisse, die auf den Menschen überhaupt übertragbar sind. Noch kleiner ist die Zahl der Ergebnisse, die dann auch zu einem konkreten Nutzen für den Menschen führte. Wobei wir auch hier erst nach den Menschenversuchen wissen, ob die Ergebnisse übertragbar sind und wir uns immer die Kausalkette ansehen müssen. Das sind Zahlen, die die Tierversuchslobby nicht einmal versucht zu widerlegen. Es ist jedoch nicht so, dass der Tierversuch als “noch so kleine Chance” für einen medizinischen Fortschritt lohnenswert ist. Wie erwähnt, wir wissen nicht, was im Tierversuch aussortiert oder verworfen wird, uns Menschen aber weiterhelfen könnte. Der Tierversuch ist also ein Glücksspiel. Und hier die “Erfolge”/ Gewinne zu nennen, um den Tierversuch zu rechtfertigen, ist sehr unwissenschaftlich! Tiere sind aus ethischen UND wissenschaftlichen Gründen keine Messinstrumente für uns Menschen. Die Tierversuchslobby und Mai Thi Nguyen-Kim weichen aber gerne auf ein angebliches ethisches Dilemma aus, das nun einmal nicht existiert. Denn selbst wenn wir den Menschen in den Mittelpunkt einer ethischen Debatte rücken, ist der Tierversuch der falsche Weg!
Dennoch zeigt Ihr Beitrag sehr gut, dass wir es auch umgekehrt sehen könnten: schon die ethischen Argumente gegen Tierversuche, wenn diese von Nutzen sein würden, reichen eigentlich aus, um Tierversuche abzuschaffen. Diese Diskussion wird jedoch nur immer wieder geführt, um von den wissenschaftlichen Argumente gegen Tierversuche abzulenken.