Im März habe ich bei der jährlichen „Tierschutztagung“ in der Evangelischen Akademie Bad Boll ein Streitgespräch mit Prof. Kunzmann über „Tierrechte oder Tierwohl?“ geführt, in dem ich viel über „Tierbefreiung“ und die Abschaffung der Nutztierhaltung gesprochen habe. In folgendem Text, der mit anderen Dokumenten zum Inhalt der Tagung für die TeilnehmerInnen online zugänglich gemacht wurde, habe ich meine Position nochmal erläutert.
Ich verstehe mich als Aktivistin der Tierbefreiungsbewegung und trete für Tierbefreiung ein. Dieser Begriff ist erläuterungsbedürftig. Die Forderung ist nicht, dass sofort alle Tiere, die in menschlicher Obhut leben, freigelassen werden. Ich denke auch nicht, dass alles Zusammenleben oder gar aller Kontakt von Menschen und Tieren aufhören muss. Stattdessen ist das Ziel, dass die Tiere aus dem bestehenden Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnis befreit werden: Dass sie nicht mehr von Menschen unter Missachtung ihrer eigenen Bedürfnisse genutzt und getötet werden.
Wer Tierbefreiung fordert, fordert daher ein Ende aller „Nutztier“-Haltung in der Nahrungsmittelproduktion, ebenso ein Ende von Tierversuchen, von Zoos, von Tiernutzung im Zirkus, im Pferdesport und in vielen anderen Bereichen. Auch der allergrößte Teil der Heimtierhaltung ist mit einer fairen Berücksichtigung der Bedürfnisse von Tieren nicht vereinbar. Es ist aus meiner Sicht allerdings durchaus denkbar, dass manche Arten des Zusammenlebens von Menschen und Tieren – insbesondere mit Hunden – unter ganz bestimmten Bedingungen vertretbar sind.
Die Forderung nach Tierbefreiung kann auf verschiedene Weisen begründet werden. Eine Weise will ich hier vorstellen. Für meine Argumentation beziehe ich mich nur auf die Nutzung von Tieren in der Landwirtschaft.
Der erste Schritt ist die Anerkenntnis, dass viele Tiere, darunter die typischen „Nutztiere“, empfindende Lebewesen sind, d.h. dass sie Bewusstsein haben und Schmerz und Leid ebenso wie Freude und Zufriedenheit erfahren können. Das wird wohl gerade unter TierärztInnen niemand bestreiten.
Mit dem Bewusstsein und der Empfindungsfähigkeit geht dann ein Anspruch auf ethische Berücksichtigung einher: Wir müssen die Auswirkungen unseres Handeln auf Tiere bedenken, insofern sie unter diesen Auswirkungen leiden können. Auch dies wird kaum jemand bestreiten, da ja kaum jemand behauptet, dass Tiere ethisch überhaupt nicht zählen und wir Beliebiges mit ihnen anstellen dürfen.
Aber auch die systematische Abwertung der Ansprüche der Tiere gegenüber denen der Menschen – also die These, dass Tiere zwar schon berücksichtigt werden müssen, dass man ihnen aber im Namen aller möglichen menschlichen Zwecke und Ziele Leid zufügen und sie umbringen dürfe – lässt sich nicht rechtfertigen. Es gibt nämlich keinen fundamentalen Unterschied zwischen Menschen und Tieren, der eine solche Andersbehandlung legitimieren könnte – im Gegenteil, die zentrale Eigenschaft für die Ethik ist die Empfindungsfähigkeit, die Menschen und viele Tiere teilen.
Der nächste Schritt im Argument ist eine empirische These und besagt, dass bei der Nutzung von Tieren zur Produktion von Fleisch, Milch und Eiern die Bedürfnisse der Tiere systematisch verletzt werden und den Tieren immenses Leid zugefügt wird. Das gilt nicht nur in der sog. Massentierhaltung, sondern auch in anderen Haltungsformen. Zunächst sind die Tiere schon auf bestimmte Leistungen gezüchtet, was ihren eigenen Interessen zuwiderläuft – so produzieren „Legehennen“ z.B. mehr Eier, als sie zur eigenen Fortpflanzung brauchen würden. Zweitens werden die Tiere ihr Leben lang gefangengehalten. In den meisten Ställen herrscht Enge und Gestank, gute soziale Beziehungen sind kaum möglich, haltungsbedingte Krankheiten kommen dazu. Die meisten Tiere werden körperlich verstümmelt. Auf soziale Beziehungen wird keine Rücksicht genommen: So werden Eltern und Kinder früh voneinander getrennt. Viele weitere für die Tiere negative Eingriffe in ihr Leben kommen hinzu und sind innerhalb der Nutzung zur Produktion von Tierprodukten notwendig. Schließlich werden die Tiere nach einem Bruchteil ihrer potentiellen Lebensdauer getötet – typischerweise nach einem leidvollen Transport und oft unter Angst und Schmerzen. Die Nutzung von nichtmenschlichen Tieren in der Landwirtschaft ist also mit massiver Gewalt gegen diese Tiere und systematischer Missachtung ihrer Bedürfnisse verbunden.
Zwei weitere Thesen sind nun noch nötig, damit abgeleitet werden kann, dass die Nutztierhaltung insgesamt abgeschafft werden muss:
Erstens bin ich überzeugt davon, dass sich die gegenwärtige Praxis nicht durch Reformen oder verschärfte Haltungsregularien so verändern lässt, dass sie ohne Gewalt gegen Tiere funktionieren würde. Fleisch lässt sich nicht ohne Tötung von Tieren erzeugen. Aber auch in der Milch- und Eierproduktion müssen Tiere eingeschränkt, manipuliert und getötet werden, zumindest wenn sie unter ökonomischen Bedingungen stattfindet. Das Grundproblem ist, dass Tiere als Waren und Ressourcen zu unserer Verfügung angesehen werden – solange sie diesen Status haben, werden ihre Bedürfnisse nicht ernstgenommen, sondern immer ökonomischen Überlegungen untergeordnet werden, wie man auch an den politischen Diskussionen und Entscheidungsprozessen zum Thema Tierschutz ablesen kann.
Zweitens lässt sich die Gewalt gegen Tiere nicht mithilfe irgendwelcher Notwendigkeitsbehauptungen rechtfertigen: Wir brauchen zu einer gesunden Ernährung keinerlei Tierprodukte. Das wird mittlerweile von zahlreichen fachkundigen Institutionen bestätigt. Wir brauchen auch keine Tierhaltung, um ökologische Landwirtschaft zu betreiben, da es auch bio-veganen Anbau gibt und dieser weiter erforscht und verbessert werden wird.
Daraus folgt also, dass die „Nutztier“-Haltung abgeschafft gehört. Dass das nicht von heute auf morgen geschehen wird, ist klar. Was der beste Weg dorthin ist, ist kontrovers. Das Ziel ist aber aus meiner Sicht deutlich und gut begründet: Tiere dürfen nicht mehr als Waren und Ressourcen zu unseren Zwecken ausgebeutet werden, sondern müssen als eigenständige Individuen ernst genommen und respektiert werden. Das ist es, was unter dem Titel „Tierbefreiung“ gefordert wird und wofür sich die Tierbefreiungsbewegung einsetzt.
Diese Forderung wird innerhalb der Tierbefreiungsbewegung typischerweise mit anderen politischen Forderungen wie der nach einer Abschaffung des Kapitalismus und mit einer Kritik verschiedener Unterdrückungsverhältnisse in der gegenwärtigen Gesellschaft verbunden.
Und wie hat Herr Kunzmann reagiert? 😉