Müssen Tierversuchsgegner*innen die Schulmedizin boykottieren?

220px-wistar_ratLetztens hat ein Bekannter von mir, der selbst bei Tierversuchen in der Krebsforschung mitarbeitet, diese seine Tätigkeit mit folgendem Argument zu rechtfertigen gesucht:

“Weder ich noch Du noch sonst ein nennenswerter Teil der Bevölkerung wären bereit, im Falle eigener Krankheit oder Krankheit eines Angehörigen auf lebensrettende medizinische Maßnahmen zu verzichten aus dem Grund, dass diese mithilfe von Tierversuchen entwickelt wurden. Damit stimmen ich, Du und fast alle Menschen der Entwicklung der Medizin mithilfe von Tierversuchen zu; also kann ich mich auch selbst an dieser Entwicklung beteiligen.”

Stimmt das? Angenommen, man ist nicht bereit, die Schulmedizin komplett zu boykottieren — denn alle Medikamente und so gut wie alle anderen medizinischen Maßnahmen wurden zu irgendeinem Zeitpunkt an Tieren ausprobiert — stimmt man damit Tierversuchen zu? Dürfte man sich also als konsistente*r Tierversuchsgegner*in unter keinen Umständen von der Schulmedizin helfen lassen?

Hier sind erstmal zwei Gegenargumente, die meines Erachtens unzureichend sind, sie stammen von Corina Gericke und lauten:

(1) “Alle Tierversuchs-Produkte zu boykottieren, ist nicht nur unmöglich, sondern auch sinnlos. Anders als bei der Ernährung würden auf diese Weise keine Tiere gerettet werden. Wir können die Tierversuche der Vergangenheit nicht rückgängig machen, wir können nur dafür sorgen, dass es in Zukunft keine mehr geben wird.”

(2) “So gut wie alle Medikamente, Behandlungsmethoden, Operationstechniken usw. sind im Tierversuch getestet worden. Als Tierversuchsgegner muss man trotzdem nicht auf Medikamente und medizinische Versorgung verzichten, wie das ja oft von der Gegenseite verlangt wird. Bei der Ernährung, bei Kosmetika haben wir die Möglichkeit auf Tierqualprodukte zu verzichten, bei Medikamenten, Operationen und anderen medizinischen Maßnahmen haben wir diese Wahl kaum oder gar nicht.”

Das erste Argument behauptet einen Unterschied zwischen dem Boykott von Tierversuchsprodukten und dem Boykott von Fleisch, Milch und Eiern, der meines Erachtens nicht besteht: Auch wenn wir kein Fleisch, keine Milch und keine Eier kaufen, werden dadurch keine Tiere “rückwirkend” gerettet: das Schwein in der Wurst ist schon tot. Es geht auch beim veganen Konsum darum, Tierausbeutung in der Zukunft zu verringern, indem man den Ausbeutern die finanzielle Unterstützung durch Kauf der betreffenden Produkte entzieht. Darin besteht also eine Parallele zur Tierversuchsmedizin: durch Kauf von tierversuchsgetesteten Medikamenten etc. werden die Firmen bzw. die ganze Pharmaindustrie finanziell gefördert, so dass sie mehr Tierversuche durchführen können. Wenn man das nicht will, dürfte man demnach ebensowenig Medikamente konsumieren, wie tierliche Produkte.

Das zweite Argument funktioniert ebenfalls, zumindest so wie es dasteht, nicht: die fehlende Wahlmöglichkeit enthebt uns nicht unserer Entscheidungsfreiheit. Wir können uns in vielen Fällen zwar nicht für ähnlich wirksame, nicht-schulmedizinische Maßnahmen entscheiden, aber wir können uns immer noch gegen die schulmedizinischen Maßnahmen entscheiden. Zum Vergleich: auch wenn es kein Mittel gegen Falten gibt, das ähnlich wirksam wie Botox ist, das (für jede Charge) an Tieren getestet wird, wäre es ethisch falsch, Botox zu benutzen. Die bloße Alternativlosigkeit als solche impliziert also nicht die Akzeptabilität.

Ich möchte eine andere Überlegung gegen die geschilderte Kritik an Tierversuchsgegner*innen vorschlagen.

Ich gehe von einer Position aus, die Tierversuche prinzipiell ablehnt: auch wenn sie versprechen würden, schlimme menschliche Krankheiten heilbar zu machen2, sind Tierversuche nicht akzeptabel, weil man nicht einem Individuum zugunsten von anderen Schaden zufügen darf.3

Nun gibt es zwei verschiedene Gründe, aus denen man als Tierversuchsgegner*in meinen könnte, die Schulmedizin komplett boykottieren zu müssen.

Grund 1: Man will einfach keine Produkte zu sich nehmen, die mit Tierausbeutung entwickelt worden sind. Man will nicht von diesem Leiden profitieren. Unabhängig davon, ob man durch die Einnahme dieser Medikamente irgendeinen Schaden selbst vergrößert, will man mit solchen Produkten nichts zu tun haben.

Hier scheint es eine Parallele zur Motivation der Ablehnung von Tierprodukten bei vielen Veganer*innen zu geben: egal ob gekauft oder containert, Fleisch ist Teil eines toten Individuums, Milch ein für Kuhkinder bestimmtes Körpersekret, beides sind keine Nahrungsmittel. Wenn man Tiere als individuelle Subjekte anerkennt, kann man sie bzw. ihre Körpersekrete nicht gleichzeitig verzehren.
Tatsächlich finde ich die letztere Haltung, also die Weigerung, tierliche Erzeugnisse zu essen, sehr nachvollziehbar; die Übertragbarkeit auf tierversuchsgetestete Medikamente erscheint mir aber zweifelhaft. Alle möglichen Produkte und Technologien sind mit Tierausbeutung entwickelt worden und die Idee, man könnte ein Leben führen, in dem man nicht irgendwie von der Ausbeutung anderer unfreiwillig profitiert, ist absurd. Vor allem glaube ich nicht, dass eine prinzipielle Ablehnung von Tierversuchen irgendwie eine solche persönliche Weigerung, Tierversuchs-Produkte zu nutzen, impliziert.
Wenn es einen guten Grund gibt, warum ein*e Tierversuchsgegner*in die Schulmedizin boykottieren sollte, dann muss es meines Erachtens der folgende, zweite Grund sein, der auch in der Betrachtung der Argumente von Corina Gericke schon angeklungen ist:

Grund 2: Wenn man Medikamente kauft oder die Krankenkasse für medizinische Maßnahmen bezahlen lässt, wird dadurch die Pharmaindustrie finanziell unterstützt, und dadurch wird ein Beitrag zu mehr Tierversuchen geleistet.1 Wenn man Tierversuche ablehnt, darf man sie aber nicht gleichzeitig finanziell unterstützen.

Mein Bekannter hatte ja behauptet, dass auch Tierversuchsgegner*innen im Bedarfsfall Medikamente einnehmen würden. Sagen wir jetzt dazu, dass sie auch Medikamente kaufen würden. Wären sie dann tatsächlich, wie der Grund 2 besagt, inkonsistent?

Meines Erachtens kann man diesen Vorwurf nun auf zweierlei Weise zurückweisen.

Zurückweisung 1: “Was man tun würde” ist nicht dasselbe wie “was man tun darf”. Hier würde man zugestehen, dass es ethisch gefordert ist, die Schulmedizin zu boykottieren, allerdings sagen, dass es in Einzelfällen für Menschen schwer bis unmöglich ist, die Forderungen der Ethik zu befolgen, nämlich dann, wenn es um ihr eigenes Leben oder das naher Angehörigen geht. Man kann ein Prinzip für richtig halten und trotzdem dagegen handeln: aus menschlicher Schwäche. Eine Analogie dazu wäre vielleicht illegaler Organhandel: Man kann prinzipiell gegen diesen Handel sein, auch wenn man nicht garantieren kann, in Lebensgefahr ein illegal gehandeltes Organ nicht anzunehmen.
Es gibt zudem offensichtlich einen wichtigen Unterschied zwischen dem Konsum tierversuchgetesteter Medikamente einerseits und dem eigenen Durchführen von Tierversuchen andererseits: letzteres lässt sich kaum mit menschlicher Schwäche erklären — es sei denn, es hinge auch hier das eigene Leben oder etwas vergleichsweise Wertvolles davon ab, ob man bei Tierversuchen mitmacht oder nicht. Das ist aber in realen Fällen nicht gegeben.
Ich finde diesen Punkt wichtig und komme etwas später nochmal darauf zurück. Ich kann mir aber vorstellen, dass man noch etwas Stärkeres sagen kann.

Zurückweisung 2: Hier würde man behaupten, dass es gar nicht ethisch gefordert ist, (in allen Fällen) die Schulmedizin zu boykottieren, und zwar aus folgender Überlegung heraus: Das ethische Verbot von Tierversuchen gilt zwar prinzipiell, lässt also keine Abwägung zu. Das heißt aber nicht, dass die individuelle Entscheidung für oder gegen den Kauf eines Medikaments ebenso prinzipiell beanwortet werden muss: ich denke, hier darf abgewogen werden.
Es geht bei dieser Entscheidung ja nicht darum, ob ein bestimmter Tierversuch durchgeführt wird oder nicht: wenn es darum ginge, wäre die Entscheidung klar. Auch wenn ich oder meine Mutter die lebensbedrohliche Krankheit X haben, darf ich keine Tierversuche zur Entwicklung eines Medikaments zur Heilung von X durchführen oder direkt unterstützen.5
Der durch den Kauf eines Medikaments oder den Besuch eines Krankenhauses ausgeübte Einfluss auf das Fortbestehen der Tierversuchsmedizin ist dagegen indirekt und vergleichsweise gering. Die Finanzierung von Tierversuchen ist komplex und man kann nicht sagen, dass sie irgendwie direkt von Verkaufserlösen bestimmter Medikamente abhinge. Der entscheidende Punkt ist: Kein Verzicht auf eine medizinische Maßnahme hilft einen einzigen Tierversuch verhindern.

Deshalb glaube ich, dass man bei der Entscheidung für oder gegen die Inanspruchnahme solcher Maßnahmen abwägen darf. Bei den Fällen, die für die Argumentation interessant sind, steht ja auf der anderen Seite viel auf dem Spiel: Wenn es um das eigene Leben geht, das gegen einen solchen, diffusen indirekten Schaden für Tiere aufgerechnet werden muss, darf (und sollte?) man sich für das eigene Leben entscheiden.

Das ist nun auch der relevante Unterschied zum Nahrungsmittelfall: das Gebot zum veganen Konsum gilt deshalb absolut, weil es keine individuellen Kosten verursacht. Auch dabei gilt natürlich, dass kein Verzicht auf Tierprodukte einem einzigen konkreten Tier das Leben rettet. Aber es gibt einen schädigenden Einfluss durch den Kauf von Tierprodukten, ebenso wie es einen schädigenden Einfluss durch den Kauf von Medizinprodukten gibt. Im Fall der Nahrungsmittel kann man darauf verzichten, ohne große Opfer zu bringen. Im Fall der lebensrettenden Medikamente nicht.4

Und wenn man die Situation in dieser Weise als Abwägung betrachtet, zeigt sich auch, warum die Folgerung im Argument meines Bekannten nicht funktioniert: Nur weil es unter Umständen ok sein kann, tierversuchsgetestete Medizin zu kaufen, lässt sich daraus nicht ableiten, dass auch die viel größere Unterstützung durch eigene Mitarbeit in einem Fall, in dem die Weigerung viel geringere Konsequenzen hätte, legitim wäre.

Die beiden Zurückweisungen 1 und 2 haben eine interessante Gemeinsamkeit: sie tragen der Tatsache Rechnung, dass es echte Konflikte zwischen elementaren Eigeninteressen und ethischen Prinzipien geben kann. Antwort 1 besagt, dass das elementare Eigeninteresse faktisch bei einer Person gewinnen kann, ohne dass damit (im Überzeugungssystem dieser Person) das Prinzip aufgehoben wird. Antwort 2 besagt, dass das Eigeninteresse unter Umständen gewinnen darf, d. h. innerhalb einer ethisch akzeptablen Entscheidungsfindung gegen das Prinzip durchgesetzt werden darf.

Ich frage mich, ob sich beide Antworten wirklich so klar unterscheiden lassen, wie ich es bisher dargestellt habe: mir kommt es so vor, als ob mir in Fällen, in denen das elementare Eigeninteresse und das Prinzip stark konfligieren, die ethische Forderungen gleichsam aus den Fingern gleiten. Die Frage “Kann man von jemandem verlangen, sein eigenes Leben zu opfern, nur um der Pharma-Industrie ein paar hundert Euro vorzuenthalten?” ist irgendwie empirisch und ethisch zugleich, scheint mir. Oder vielleicht meine ich damit auch: nur solche Prinzipien können ethisch Geltung haben, die von Menschen mit all ihren Schwächen auch tatsächlich befolgt werden können.

Es liegt eine gewisse Perfidie in dem Argument meines Bekannten — man kennt sie aus vielen alltäglichen Diskussionen: wenn ich gegen ein bestimmtes gesellschaftliches Phänomen (Tiernutzung, Tierversuche, Umweltverschmutzung etc.) Stellung beziehe, wird von mir erwartet, dass ich mein eigenes Leben hundertprozentig von diesem Phänomen rein halte, dass ich vor allem in keiner Weise selbst von diesem Phänomen profitiere. Je verbreiteter das Phänomen ist, je mehr es die Normalität bestimmt, umso schwieriger bis unmöglich ist es aber, sein Leben davon frei zu halten. Umso größere Opfer kostet es — für umso geringere Wirkungen. Wenn es eine tierversuchsfreie medizinische Forschung gäbe, hätten wir auch bessere tierversuchsfreie Medikamente und Heilungsstrategien. Aber solange es die nicht gibt (was wir kritisieren), wird von uns erwartet, dass wir ohne Medizin leben. Das heißt: Kritiker*innen der Normalität sollen Märtyrer*innen für ihre Ideen sein, um von der Normalität als Kritiker*innen ernst genommen zu werden. Oder auch: wer aus ethischen Gründen eine andere Welt fordert, muss selbst ethisch perfekt sein. Das ist perfide und verkennt den Kernpunkt der Kritik:
Es geht nicht darum, als Einzelperson ethisch perfekt zu sein, sondern darum, eine ethisch bessere Welt zu schaffen, d. h. eine Welt, in der es möglich ist, sich an Grausamkeit und Unterdrückung nicht zu beteiligen, ohne dass man ein*e Märtyrer*in ist.

Fußnoten

  1. Der je nach Produkt natürlich verschieden groß und z. B. bei Generika sehr gering ist. Siehe auch http://vegane-lebensweise.org/ethik/corinna-gericke-uber-tierversuche/ [zurück]
  2. Ich vernachlässige hier die medizinischen Argumente gegen Tierversuche, die ich aber für sehr wichtig halte. Siehe dazu http://www.aerzte-gegen-tierversuche.de/ [zurück]
  3. Es gibt sicher realitätsferne Gedankenexperimente, in denen Tierversuche erlaubt sind: wenn man weiß, dass Stoff X entweder Menschen und Hunde von Krebs befreit oder tödlich ist, könnte man es vorziehen, den Stoff an einem alten krebskranken Hund auszuprobieren, o. ä. Meines Erachtens untergraben solche Gedankenexperimente nicht die Wahrheit des allgemeinen Prinzips; stattdessen verzerren sie die Debatte, indem sie von der Realität der Tierversuche ablenken, in denen nie solche Bedingungen gegeben sind. Analog wäre das ethische Verbot zu foltern, das unter bestimmten Umständen nicht gilt. [zurück]
  4. Aus meiner Argumentation ergibt sich damit auch, dass der Verzicht auf unnötige Medikamente, die z. B. nur der Verkürzung oder geringer Erleichterung von Krankheitsphasen dienen, durchaus geboten ist. Wo genau die Grenze liegt, muss hier nicht entschieden werden. [zurück]
  5. Ich vermute, dass mein Bekannter vielleicht eigentlich diesen Punkt im Auge hatte und behaupten wollte, dass alle Leute für Tierversuche wären, sobald die betreffenden Krankheiten sie selbst betreffen. Das ist aber meines Erachtens einfach falsch. [zurück]

One Reply to “Müssen Tierversuchsgegner*innen die Schulmedizin boykottieren?”

  1. “Das heißt: Kritiker*innen der Normalität sollen Märtyrer*innen für ihre Ideen sein, um von der Normalität als Kritiker*innen ernst genommen zu werden.”

    Das wär ja schlimm genug. Tatsächlich aber gelten derartige Märtyrer_innen gemeinhin als fanatisch d.h. unvernünftig d.h. mensch kann sie erst recht nicht ernst nehmen. Es ist ein Catch-22.

Comments are closed.